Vor 55 Jahren: Die Revolution der ungarischen ArbeiterInnen wird in Blut ertränkt

 

Revolutionär-Kommunistischen Organisation zur Befreiung (RKOB), 9. November 2011

 

Vor 55 Jahren, genauer gesagt im Oktober und November des Jahres 1956, fand in Ungarn ein Aufstand statt, der in seiner Größe zum damaligen Zeitpunkt eine Einmaligkeit darstellte. Noch nie zuvor in der Geschichte, hatte sich eine dermaßen breite Volksbewegung, noch dazu derart deutlich, gegen die stalinistische Unterdrückung in einem Ostblockland aufgelehnt. Es waren die ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen selbst - aber auch die StudentInnen -, die diese Bewegung vorwärts trieben, und eine verhaßte stalinistische Regierung zu Sturz brachten. Es kam zur Bildung von revolutionären ArbeiterInnen- und Bauernräten, die auch die meisten Fabriken und Agrosiedlungen kontrollierten. Leider aber endete diese hoffnungsvolle Massenbewegung in einem Meer von Blut, ohne viel bewirkt zu haben. Die Geschehnisse des Herbstes 1956 in Ungarn stellen sicherlich weit mehr dar, als nur die Auflehnung der Bevölkerung gegen eine ungeliebte Regierung, vielmehr waren sie eine der wenigen Chancen in der Geschichte der Arbeiterschaft in den stalinistischen Staaten Osteuropas die verhaßte, alles beherrschende Bürokratie durch die direkte Herrschaft der ProduzentInnen (ArbeiterInnen, Bauern und BäuerInnen) zu ersetzen.

 

Nach dem Tod Stalins im Jahre 1953, gab es einen gewissen Kurswechsel in Moskau. Die neue “kollektive” Führung (Troika) unter Malenkow, Chrustschow und Mikojan traute sich nicht, die Stalinsche Politik der äußerst harschen Konfrontation mit den ArbeiterInnen fortzusetzen. Letztlich braucht auch das stalinistische Terrorregime ein gewisses Ausmaß an Unterstützung oder zumindest Neutralität innerhalb der Massen. Folglich verkündete die neue Kremlführung eine (freilich limitierte) Lockerung der Repression, ein Aufholen der Konsumgüterindustrie gegenüber der Schwerindustrie und Zugeständnisse an jene Bauern und Bäuerinnen, die den Kollektivfarmen ablehnend gegenüberstanden.

 

In den osteuropäischen Ländern hielten die StalinistInnen seit dem Einmarsch der sowjetischen Armee in den letzten Kriegsjahren de facto den Staatsapparat in den Händen. Um ihre Macht nicht zu verlieren, sahen sie sich zu Beginn des Kalten Krieges Ende der 1940er Jahre gezwungen, den UnternehmerInnen die Betriebe wegzunehmen um mittels bürokratischer Wirtschaftspläne das kapitalistische Wertgesetz außer Kraft zu setzen. An dieser sozialen Revolution konnte die ArbeiterInnenklasse selbst nicht mitwirken - im Gegenteil, die StalinistInnen an den Schalthebel der Macht unterdrückten schon seit Kriegsende jede größere, eigenständige Bewegung der Massen. Das war auch der Grund, weshalb die Planwirtschaft an den realen Bedürfnissen und Möglichkeiten der arbeitenden Bevölkerung völlig vorbeiging, den utopischen Projekten der BürokratInnen (“Sozialismus in einem Land”) und den Privilegien der KP-Nomenklatur diente und daher zu ständigen Engpässen und Wirtschaftskrisen führte, deren Folgen dann erst recht wieder bürokratisch unterdrückt werden mußten.

 

Der “neue Kurs” in Moskau kam natürlich auch in den osteuropäischen Ländern zur Anwendung, nur hatte er dort weitreichendere Auswirkungen. Weshalb? Weil es in diesen Staaten eine unter Stalins Lebzeiten an den Rand gedrängte Fraktion innerhalb der stalinistischen KPs gab, die einen relativ unabhängigen Weg gegenüber Moskau gehen wollten. Ihr Vorbild war Titos Jugoslawien, das die Staatsmacht ja unabhängig von der sowjetischen Armee erobert hatte und daher nicht Wirtschaftsverträge mit der Sowjetunion, die eindeutig zum ökonomischen Vorteil Moskaus geschaffen wurden, eingehen mußte und keine Reparationszahlungen zu leisten hatten. Diese “national-stalinistischen” Fraktionen waren natürlich nicht weniger bürokratisch, erfreuten sich aber einer gewissen Popularität unter den Massen, weshalb sie auch in den Augen der Troika besser geeignet schienen, die stalinistische Herrschaft zu stabilisieren.

 

Ungarn Anfang der 1950er Jahre

 

In Ungarn wiederum war die “national-stalinistische” Fraktion extrem beliebt und Stalins Statthalter extrem unbeliebt. Das hängt damit zusammen, daß Ungarn bis in die 1940er Jahre vorwiegend ein Agrarland war und daher unglaubliche Arbeitshetze und politische Repression am Arbeitsplatz notwendig waren, um mittels des Arbeitsschweiß der ArbeiterInnen eine umfangreiche Schwerindustrie in nur wenigen Jahren aus den Boden zu stampfen. Viele Bauern und Bäuerinnen wurden in unproduktiven Kooperativen gezwungen und trauerten ihrer eigenen Scholle nach. Die Preise von landwirtschaftlichen Produkten wurden gemäß den Akkumulationsinteressen der Schwerindustrie festgelegt.

 

Es ist daher kein Zufall, daß der unbeliebteste Politiker dieser Zeit der “kleine Stalin” namens Rakosi war. Dieser lenkte die Geschicke der KP seit 1948, und führte das Land so nebenbei sozial in den Abgrund. Ihn völlig abzuservieren war der Moskauer Troika aber doch zu riskant und so einigte man sich 1953 darauf, als Zeichen der Erneuerung einen neuen Premier einzusetzen.

 

Dieser hieß Imre Nagy. Er konnte dem rechten Flügel innerhalb des Stalinismus zugeordnet werden, wurde aber bald zum Volksheld. Warum? Noch gar nicht lange im Amt, wurde er bereits 1955 wieder entlassen, und zog so das Wohlwollen der ArbeiterInnen und StudentInnen auf sich, sah man ihn doch als Rivalen des verhaßten Rakosi an. Abgesehen davon stand Nagys Unterschrift unter der ersten richtigen Bodenreform Ungarns kurz nach dem zweiten Weltkrieg. Den Adel und den Großgrundbesitz entmachtet zu haben - eine fortschrittliche bürgerliche Aufgabe, zu der das ungarische Bürgertum politisch immer zu schwach war - das vergaß die Landbevölkerung aber auch die “Bauern in Fabrikskittel” nicht.

 

Dem Aufstand entgegen

 

Große Wellen schlug damals auch der Fall “Rajk”. Rajk war innerhalb der ArbeiterInnenschaft relativ beliebt, weil er die ungarischen KP in der Illegalität während der deutschen Besatzung geleitet hatte, während sich Rakosi die Zeit im Moskauer Exil mit der Denunzierung von ArbeiterInnenführern an den Geheimdienst NKWD vertrieb. Die Popularität Rajks unter den ungarischen ArbeiterInnen ging der sowjetischen Führung dann doch zu weit, und er wurde nach Moskau ins “Exil” verfrachtet.

 

1954 wurde dann der sogenannte Petofi-Zirkel gegründet, ein offeneres Diskussionsforum, welches der bürokratischen Führung des Landes natürlich ein Dorn im Auge war. Also erzwang man - mit einer Welle von Verhaftungen - im Juni 1956 die Schließung des Petofi-Zirkels, der nachhaltig die Rede- und Pressefreiheit, sowie die Rückkehr Nagys in sein Amt gefordert hatte. Dies erzürnte natürlich auch die ArbeiterInnen.

 

Ermutigt durch die großen Streiks, die zur selben Zeit in Polen stattfanden, streikte man daraufhin auch in Budapest - und Moskau mußte erneut reagieren. Diesmal brachte man statt Rakosi einen gewissen Gero, der dessen bravster Gefolgsmann war.

 

Doch die ArbeiterInnen ließen sich nicht mehr täuschen: Am 6. Oktober war es soweit. Über 20.0000 Menschen demonstrierten für die Rückkehr Nagys nach Budapest. Rote Fahnen in den Händen der proletarischen Jugend waren zu sehen, und man konnte den Spruch lesen: “Wir werden erst aufgeben, wenn der Stalinismus zerstört ist”.

 

Und dann die Demonstration am 23. Oktober: Geführt vom Petofi-Zirkel, sang man die Internationale und forderte “Nagy an die Macht, Rakosi in die Donau”. Angesichts solcher Ausschreitungen, und insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt der zunehmenden Verbrüderung zwischen ArbeiterInnen und Soldaten, hatte die ungarische KP akuten Handlungsbedarf, welcher sich folgendermaßen äußerte: Erstens forderte man Truppen vom großen Bruder aus Moskau an und zweitens brachte man Nagy tatsächlich erneut ins Amt, in der Hoffnung er könne die Massen alsbald beruhigen.

 

Aber nichts dergleichen war mehr möglich. Als die ungarischen Sicherheitskräfte unbewaffnete DemonstrantInnen aus dem Hinterhalt erschossen, strömte die Menge zu den Kasernen. Es bedurfte nicht langer Erklärungen, um die ungarischen Soldaten zu der Herausgabe von Waffen zu bewegen. Der Aufstand war ausgebrochen. Russische Panzer wurden losgeschickt, die auch auf Frauen und Kinder schossen, die sich um Brot anstellten.

 

Doch mitunter kam es anders. Denn auch die sowjetischen Soldaten waren nicht die blinden Kampfmaschinen, die sich Gero & Co. erhofft hatten. In der Erwartung, aus der Sowjetunion geschickt worden zu sein, um einen faschistischen Aufstand niederzuschlagen, mußte die Soldaten nur zu bald die Erfahrung machen, daß es sich hier um das pure Gegenteil handelte, nämlich um fortschrittliche, kämpfende ArbeiterInnen. Ein wichtiges Ereignis fand in dieser Hinsicht am 25. Oktober statt, als die sowjetischen Soldaten eine Gruppe jubelnder DemonstrantInnen zum Parlament geleitete und von den umliegenden Hausdächern durch ungarische Sicherheitskräfte beschossen wurden. Dabei starben 100 ZivilistInnen und russische Soldaten.

 

Mitunter wechselten selbst KP-Funktionäre die Fronten: Major Maleter, ein alter Spanienkämpfer, schilderte im Radio den Aufstands, den er mit seinen Truppen eigentlich niederschlagen hätte sollen: “Als ich dort hinkam, entdeckte ich, daß die Kämpfer für die Freiheit keineswegs Banditen sind, sondern vielmehr loyale Kinder Ungarns. Darum informierte ich das Verteidigungsministerium, daß ich mich den Aufständischen anschließen werde.” Ein anderes Mal sagte der Major: “Wenn wir die Russen endlich los sind, kehren wir sicher nicht zu den alten Zeiten zurück. Wir wollen nicht den Kapitalismus. In Ungarn wollen wir Sozialismus.” Diese Aussagen beweisen einmal mehr, daß die Aufständischen keineswegs „Agenten des Imperialismus“ oder „Faschisten“ waren (wie es die stalinistischen Bürokraten behaupteten), sondern für einen demokratischeren ArbeiterInnenstaat kämpften.

 

ArbeiterInnenräte

 

Ab 26. Oktober wurde die Arbeit total niedergelegt, Massenstreiks breiteten sich aus, was sehr bald zu Betriebsbesetzungen führte, um der Bürokratie ein Weiterlaufen der Fabriksmaschinen zu verunmöglichen. Spontan entstanden Koordinationsformen für diese Aufgaben: Räte. Auf dem flachen Land bildeten sich Bauern- und Bäuerinnenkomitees. Diese Räte und Komitees, die innerhalb kurzer Zeit überall in Ungarn aus dem Boden sprossen, waren das Herz der Revolution. Niemand konnte bisher flexiblere und effektivere Instrumente des Aufstandes “erfinden”, als es die Räte sind, in die die Massen KämpferInnen ihres Vertrauens entsandten.

 

Politisch gesehen waren die ungarischen Räte 1956 nicht geeint, sie stellten mitunter ziemlich unterschiedliche, auch lokale Forderungen auf. Das ist auch nicht verwunderlich, alles mußte schnell gehen, unmittelbare politische Erfahrungen gab es keine; von einer Partei, die den Aufstand angeleitet hätte, ganz zu schweigen. Insgesamt aber gab es innerhalb der Räte kaum Stimmen für eine Wiederherstellung des Kapitalismus oder ein Zurück hinter die Landreform.

 

Viele Forderungen waren eindeutig gegen die politische Repression durch den Stalinismus gerichtet (Rede- und Organisationsfreiheit), andere waren eher ein Reaktion gegen den bürokratischen Zentralismus in der Wirtschaft (Selbstverwaltung der Betriebe). Wandere Losungen forderten den Abzug der russischen Truppen sowie den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt - nationale Selbstbestimmung war neben den Kampf gegen die heimische stalinistische Repression überhaupt ein zentraler Motor.

 

Die Massen in Waffen und der politische Druck der Räte und Komitees zwangen die sowjetischen Truppen vorerst zum Abzug (31. Oktober). Ein erster Sieg für die Revolution.

 

Verrat und Niederlage

 

Trotz dieses enormen Potentials, hielten die Massen an einer - teilweise kritischen - Unterstützung für Nagy fest. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, weil sich die Nagy-Fraktion – auch wenn sie ein überzeugter Stalinist war und somit dem System angehörte, das sie bekämpfen wollten – jahrelang innerhalb der KP-Bürokratie als Alternative gebärden konnte. Sie war ja auch nicht an der Macht gewesen und somit konnten die breiten Massen in der kurzen Zeit keine ausreichenden Erfahrungen mit ihr sammeln. Nun an die Macht gekommen, trieb die Nagy-Fraktion teils vor den Massen her (Nagy erklärte Ungarn für neutral und erkannte die Räte formal an), teils versuchte sie den Aufstand zu sabotieren (Nagy verkündete das Standrecht).

 

So benutzte Nagy das Vertrauen, das ihm von den Aufständischen entgegengebracht wurde. Aufgrund ihrer materiellen Lage als Teil der privilegierten Bürokratie wollte die Nagy-Führung natürlich nicht die erstarrte Bürokratie durch ArbeiterInnenräte ersetzen. Sie tat stattdessen das, was im Stalinismus immer bei solchen Gelegenheiten passiert: Um ja zu verhindern daß es zu einem gesunden ArbeiterInnenstaat kam, ging sie eine Koalition mit offen bürgerlichen und reaktionären Kräften ein. Am 27. Oktober präsentierte er seine neue Regierung, die zum Beispiel SozialdemokratInnen enthielt.

 

Gut möglich, daß dies als Fenster in Richtung Imperialismus gedacht war. Doch die ganze (auch internationale) Konstellation ließ in den 1950er Jahren eine Wiederherstellung des Kapitalismus noch nicht zu. Blieb für die ungarische KP (und ironischerweise auch für Nagy selbst!) nur Moskau.

 

Dafür mußte innerhalb der KP natürlich ein neuer Mann her - dieser hieß Kadar. Mit Hilfe neuer russischer Truppen aus Asien “normalisierte” er die Verhältnisse. Am 4. November beginnt die russische Armee einen konzentrierten Angriff auf Budapest. Die Revolution hat gegen diese Übermacht keine Chance und wird in die Defensive gedrängt.

 

Monatelang wehren sich noch die ungarischen ArbeiterInnen mit Streiks und passiven Widerstand. Am 14. November 1956 wird der „Zentrale Arbeiterrat von Budapest“ gegründet. Noch im Dezember ruft dieser Arbeiterrat zu einem 48-stündigen Generalstreik auf. Doch letztlich erstickte der Aufstand unter der Stahllawine sowjetischen Militärgeräts.

 

Fehlen einer revolutionären Partei

 

Der ungarische ArbeiterInnenaufstand 1956 war ein zentrales Ereignis der Nachkriegsgeschichte und einer der heroischsten Versuche des Proletariats, die grausame Herrschaft der stalinistischen Bürokratie zu stürzen und durch einen gesunden, sozialistischen ArbeiterInnenstaat zu ersetzen. Doch trotz der Entschlossenheit der Massen zum Kampf gegen die Bürokratie und der Schaffung von Räten der ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen endete die Revolution in einer Niederlage.

 

Die Hauptursache für diese Niederlage war das Fehlen einer revolutionären Partei. Die Massen waren spontan in der Lage, die Regierung zu stürzen und Räte aufzubauen. Doch spontan konnten sie natürlich nicht ein Programm der Errichtung der tatsächlichen Diktatur des Proletariats – also der Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse und nicht der Kapitalisten oder der Bürokraten – entwickeln und die dafür notwendigen Taktiken ableiten. Ein solches Programm erfordert die wissenschaftliche Aufarbeitung der geschichtlichen Erfahrungen des internationalen Klassenkampfes, die Ausbildung von Kadern, die diese Lehren verstehen und in der Lage anzuwenden sind, und die im Proletariat verankert sind. Eine solche revolutionäre Partei existierte nicht und das war die fatale Schwäche der ungarischen Revolution.

 

Eine solche Partei hätte eine systematische Zersetzungsarbeit in der sowjetischen Armee eingeleitet, den Aufbau von ArbeiterInnen- und Bauernmilizen vorangetrieben und ein klares Programm der auf ArbeiterInnenräte und –milizen gestützten Regierung entwickelt. Sie hätte die Einheitsfronttaktik gegenüber der Fraktion Nagy betrieben und gleichzeitig vor deren unausweichlichen Verrat und Unzulänglichkeit gewarnt.

 

Die Revolutionär-Kommunistische Organisation zur Befreiung (RKOB) tritt für den Aufbau einer solchen revolutionären Partei ein. Wir können dem Heldenmut und dem sozialistischen Streben der ungarischen Arbeiterinnen und Arbeiter am besten dadurch gedenken, im dem wir heute entschlossen und organisiert für die Sache der internationalen ArbeiterInnenrevolution kämpfen.

 

Anmerkung der Redaktion: Wir haben diesen Artikel erstmals in unserer damaligen Zeitung ArbeiterInnenstandpunkt im Oktober 2006 veröffentlicht und für diese Ausgabe überarbeitet und erweitert.