Einleitung und kurzer historischer Überblick

Der Fall des 20-jährigen slowakischen Roma Mario Bango, der heute wegen der Verteidigung seines Bruders gegen einen Nazi-Überfall im Gefängnis sitzt, wirft ein deutliches Schlaglicht auf die Lage der Roma in Osteuropa. Selbst die neoliberale britische Wochenzeitschrift „Economist“ veröffentlichte einen längeren Artikel über die Lage der Roma, in dem sie unumwunden die systematische Diskriminierung der Roma im kapitalistischen Osteuropa zugibt. (1)

 

Wie analysieren wir MarxistInnen die Unterdrückung der Roma und wie müsste eine Strategie der Befreiung aussehen?

 

Beginnen wir mit einem kurzen Überblick über die Geschichte der Roma bis zum Ende des 2. Weltkrieges. Wie im Falle der Juden und Jüdinnen hat auch die Unterdrückung der Roma tiefe historische Wurzeln, die bis in die Epoche des Feudalismus zurückreichen. Ursprünglich aus Indien stammend, trieb sie die Ausbreitung des Osmanischen Reiches Richtung Westen. Um das Jahr 1300 erreichten sie Südosteuropa und Gruppen von Roma siedelten sich im 15. Jahrhundert in Nord- und Westeuropa an. (2)

 

Doch in der niedergehenden, von Armut und konfessioneller Starrheit geprägten feudalen Gesellschaft war eine Integration der Roma – ähnlich wie bei den Juden und Jüdinnen – unmöglich. Die im niedergehenden Feudalismus um ihre Macht kämpfende Kirche war besonders federführend bei der Stigmatisierung der nicht-christlichen Roma. 1427 wurden Roma vom Pariser Erzbischof exkommuniziert und vor dem Hintergrund des allgemeinen religiösen Terrors der katholischen Kirche (Inquisition!) setzte eine Welle der Verfolgung bis hin zu Pogromen gegen die Roma ein. Oft wurde ihnen selbst das Betreten der Städte verwehrt.

 

Im Allgemeinen war die Verfolgung der Roma in Westeuropa stärker als im Osten. Vor allem im Bereich der Konfliktregionen zwischen den Ungarn und den Osmanen wurden sie in gewissem Ausmaß toleriert. Dies ergab sich aus der Tatsache, daß die kriegsführenden Parteien ihre Fähigkeiten als Schmiede sowie im Befestigungsbau benötigten. Deswegen zogen auch viele Roma vom Westen Europas nach Osten.

 

Die systematische Diskriminierung verunmöglichte den Roma die gesellschaftliche Integration. Ihnen standen nur wenige Berufe offen wie z.B. Schmiede, Musiker u.ä. beziehungsweise das Vagabundenleben. Spätere Versuche der Integration scheiterten, weil sie mit enormer Repression verbunden waren. So z.B. wollte die Habsburger Monarchie im späten 18. Jahrhundert unter den KaiserInnen Maria Theresia und Josef II die Roma zu sesshaften Bauern und Bäuerinnen machen. Doch waren diese Maßnahmen mit dem Verbot der eigenen Sprache, der traditionellen Kleidung sowie der Wegnahme ihrer Kinder verbunden! Im heutigen Rumänien fristeten die Roma bis 1864 gar ein Sklavendasein. Nach der Aufhebung der Sklaverei zogen viele nach Mitteleuropa, v.a. in die Slowakei und Ungarn.

 

Aufgrund der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Abdrängung der Roma auf einzelne Handwerks- und Unterhaltungsberufe bzw. eine Nomadenexistenz konnten die Roma auch nicht am Aufschwung des Kapitalismus und der damit verbundenen gesellschaftlichen Entwicklung partizipieren. Sie waren zu einer Art Nischenrolle in der feudalistischen Gesellschaftsordnung verdammt.

 

Wenn wir eine zusammenfassende Einschätzung der gesellschaftlichen Physiognomie der Roma vornehmen, so trifft auf sie am ehesten die vom trotzkistischen Theoretiker Abraham Leon in seiner historischen Analyse des Judentums entwickelte Kategorie der „Volksklasse“ zu. Das bedeutet, daß die Roma nicht, so wie andere Völker, in die verschiedenen Klassen der Gesellschaft unterteilt waren – Feudalherr, Bauern und Bäuerinnen, Kaufleute etc. – sondern Volk und Klasse sozusagen ident waren. (3)

 

Doch im Unterschied zu den JüdInnen war ihre gesellschaftliche Diskriminierung auch mit einem ökonomischen Paria-Status verknüpft. Deswegen wurden die Roma in der Epoche des aufsteigenden Kapitalismus im 19. Jahrhundert auch im Westen nicht assimiliert.

 

Im 20. Jahrhundert führten die gesellschaftlichen Widersprüche des niedergehenden Kapitalismus bekanntlich zu den schlimmsten Kriegen und Völkermorden, die die Menschheit bislang erlebte. Auch wenn die große Mehrheit der Roma mittlerweile sesshaft war – in der Slowakei waren 1893 z. B. nur 2% der Roma Nomaden (4) –, änderte dies nichts am Paria-Status. So wie die Kirche in der Zeit der Inquisition den Hass der unterdrückten Volksmassen auf bestimmte Außenseiterschichten abzulenken versuchte, so transformierte der Faschismus nach erfolgreicher Zerschlagung der ArbeiterInnenbewegung die zerstörerischen Kräfte der kapitalistischen Gesellschaftsordnung in die Massenvernichtung ganzer Volksgruppen.

 

Was im Westen Holocaust und von den JüdInnen Shoa genannt wird, ist für die Roma die Porrajmos (Vernichtung). Zwischen einer halben und eineinhalb Millionen Roma wurden während des 2. Weltkrieges von der Nazi-Maschinerie vernichtet. (5) Es ist bezeichnend für die oberflächliche Aufarbeitung der Nazi-Kriegsverbrechen durch die alliierten Siegermächte – deren Hauptinteresse ja in der Integration der besiegten deutschen Bourgeoisie bestand -, daß die Vernichtung der Roma in den Nürnberger Prozessen nicht einmal erwähnt wurde. So stellte die Nazi-Herrschaft den schrecklichen Höhepunkt einer jahrhundertelangen Geschichte von Unterdrückung und Verfolgung der Roma in Europa dar.

 


 

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