Aktionsprogramm zur Befreiung der Roma

Wir können hier natürlich kein vollständiges Programm gegen die Roma-Unterdrückung vorlegen. Diese Aufgabe obliegt letztlich den revolutionären Roma-AktivistInnen vor Ort. Aber es ist sehr wohl möglich, wesentliche Grundzüge zu formulieren, die hierbei berücksichtigt werden müssen.

 

Eines der gravierendsten Probleme der Roma ist ohne Zweifel die extrem hohe Arbeitslosigkeit. Daher fordern wir:

* Schaffung von Arbeitsplätzen für Roma durch ein öffentliches Beschäftigungsprogramm!

 

Die Wohnsituation der Roma spottet heute meist jeder Beschreibung. Daher:

* Für ein Bauprogramm von qualitativ hochwertigen Häusern für Roma! Ob sie in separaten Orten bzw. Siedlungen oder innerhalb der Wohngebiete der Mehrheitsbevölkerung leben, darf nur von den Roma selber entschieden werden!

 

Auch im Bildungswesen muß die faktische Apartheid gegen die Roma aufgehoben werden. Selbstverständlich würden wir den Wunsch der Roma nach eigenen Schulen respektieren. Aber Projekte wie die Ghandi-Schule in Pecs (Ungarn) sind eher Versuche der kleinen Roma-Elite, ihr eigenes Führungscorps auszubilden. Die breite Masse der Roma möchte schlichtweg gleichberechtigt in den gemeinsamen Schulen mit der Mehrheitsbevölkerung sein.

* Für ein grundlegend verändertes Ausbildungssystem, das Roma den Unterricht sowohl in der Mehrheitssprache als auch in Romanes auf freiwilliger Basis anbietet!

 

Dies weist auch auf die notwendigen grundlegenden Veränderungen im kulturellen und gesellschaftlichen Bereich hin. Zwar wurden die Roma nach 1989 in einigen osteuropäischen Ländern als eine Minderheit offiziell anerkannt - dies hat dazu geführt, daß eine kleine Minderheit von offiziellen Roma-VertreterInnen und ausgewählten Intellektuellen in den Genuss von Förderungsmitteln kam. Doch für die breite Masse der Roma hat sich dadurch nicht viel verändert.

* Für die Anerkennung von Romanes als gleichberechtigte Sprache in den Schulen, Lernbüchern, Medien, bei offiziellen Behörden usw.! Dafür müssen auch entsprechende Finanzmittel, ausgebildetes Personal usw. zur Verfügung gestellt werden!

 

Wie soll das alles finanziert werden? Indem jene Minderheit – die KapitalistInnen – massiv besteuert und enteignet wird, die sich in den letzten Jahren auf Kosten der breiten Masse der Bevölkerung und insbesondere der Roma bereichert hat!

 

Wichtig ist weiters, daß diese Programme nicht vom bürgerlichen Staat verfälscht werden können und daher unter Kontrolle demokratisch gewählter VertreterInnen der Roma und der ArbeiterInnenklasse stehen müssen. Denn aus den bisherigen Erfahrungen wissen die Roma nur gut genug, daß der bürgerliche Staat auf Seiten der herrschenden Klasse steht und “bestenfalls” eine kleine Minderheit reicher Roma bevorzugt, jedoch nicht die breite Masse.

 

Angesichts der zunehmenden rassistischen Übergriffe durch Skinheads und anderen Abschaum dürfen die Roma nicht der Polizei und dem bürgerlichen Staat vertrauen. Staat und Polizei schikanieren selber tagtäglich die Roma. Im Falle faschistischer Übergriffe schauen die Behörden in der Regel weg oder beschränken sich auf bloß symbolischen Strafen für die RassistInnen. Nein, die Roma dürfen sich nur selber und den sie unterstützenden ArbeiterInnen und Jugendlichen vertrauen! Der junge anti-faschistische Roma Mario Bango hat ein Beispiel für mutigen Widerstand geliefert. In diesem Geist gilt es nun, breiter und organisierter den Nazis entgegenzutreten.

* Für eine organisierte, militante Selbstverteidigung der Roma-Gemeinden gegen rassistische Banden und Polizei-Übergriffe!

 

Der Kampf gegen die Unterdrückung der Roma ist von seiner Natur her ein internationaler. Denn die Roma leben in vielen Ländern - v.a. in Osteuropa - und überall werden sie unterdrückt. Darüber hinaus werden sie in ihrer Reisefreiheit permanent eingeschränkt. Wir lehnen jegliche Reisebeschränkung ab!

* Im Westen muß die ArbeiterInnenbewegung daher für die uneingeschränkte Reise- und Niederlassungsfreiheit der Roma eintreten!

 

Viele Roma haben in den letzten Jahren Hoffnungen in die EU gesetzt. Doch das verbale Engagement der EU für die osteuropäischen Roma ist pure Heuchelei. Man braucht sich nur anzusehen, wie dieselben HüterInnen der Menschenrechte mit den ImmigrantInnen umgehen! Die EU-Regierungen benützen die Roma-Frage nur als Druckmittel gegen die osteuropäischen Regierungen. Sie wollen eine Verbesserung der Lage der Roma in Osteuropa, weil sie die Roma nicht in ihren eigenen Ländern haben wollen! Die breite Masse der Roma hat von ihnen nichts zu erwarten.

 

Die Strategie der revolutionären Integration beinhaltet den Kampf für die volle Gleichberechtigung der Roma. Das Ziel ist jedoch nicht eine Aufrechterhaltung der Trennung zwischen Roma und der Mehrheitsbevölkerung, sondern die Vereinigung der Massen beider Volksgruppen im gemeinsamen Kampf gegen die herrschende Klasse. Nur im und durch den Klassenkampf kann es zu einer tatsächlichen Integration der Roma einerseits und der Abschüttelung des drückenden Bleigewichts des herrschenden Chauvinismus kommen. Daher fordern wir:

* Für eine aktive Politik der Integration von Roma-ArbeiterInnen (inklusive Arbeitslose) in die Gewerkschaften und andere Institutionen der ArbeiterInnenbewegung! Sie müssen in Leitungsorganen vertreten sein und das Recht auf eigene, separate Treffen der BasisaktivistInnen haben (zusätzlich zu den normalen Treffen)!

 

Doch angesichts des weitgehenden Ausschlusses der Roma aus dem Arbeitsprozess und des weitverbreiteten Rassismus in der Gesellschaft reicht diese Forderung nicht aus. Der Hungermarsch von Roma in der Slowakei ist ein erstes Anzeichen für ein allgemeines politisches Erwachen. Hier gilt es anzusetzen und basierend auf einer Reihe von sozialen und demokratischen Forderungen eine revolutionäre Roma-Bewegung aufzubauen. Das Entscheidende dieser Losung ist, daß die Roma nicht darauf warten, daß die offizielle ArbeiterInnenbewegung sich ihrer Sache annimmt. Denn dafür gibt es gegenwärtig nicht die geringsten Anzeichen. Der Aufbau einer Roma-Massenbewegung ist daher das Gebot der Stunde und alle anti-rassistisch gesinnten AktivistInnen der Mehrheitsbevölkerung müssen eine solche Entwicklung unterstützen.

 

Eine solche Bewegung könnte auch die Zersplitterung der Roma-Gemeinde in verschiedene Clans und die patriachale Dominanz der Clan-FührerInnen überwinden. Denn letztlich stehen diese einer tatsächlichen Integration der breiten Masse der Roma entgegen, die ihnen ihren Einfluss rauben würde.

 

Ebenso gilt es, die übergroße Bedeutung der kleinen Schicht von Roma-AkademikerInnen zu beenden, die im Auftrag der bürgerlichen Regierung oder der EU offizielle Roma-VertreterInnen spielen. Doch diese haben nicht die Interessen der breiten Masse der Roma im Auge, sondern nur die Verteidigung ihrer kleinen Privilegien. Nein, wir brauchen eine Bewegung der einfachen Roma und der mit ihnen verbundenen Intellektuellen! Eine solche Bewegung könnte die Roma von einem bloßen Opfer der rassistischen Unterdrückung in zentrale politische Akteure der gesellschaftlichen Veränderung verwandeln. Dazu ist es wichtig, daß eine solche Bewegung nicht bei den vordringlichsten, unmittelbaren Forderungen stehen bleibt, sondern den gemeinsamen Kampf mit der gesamten ArbeiterInnenklasse anstrebt – für die revolutionäre Umwälzung der kapitalistischen Gesellschaft und den Aufbau eines tatsächlichen Sozialismus!

 

Fussnoten:

 

(1) The Economist: „Europe’s spectral nation“, 12. May 2001

(2) Ian Hancock: Origins of the Romani People; http://www.geocities.com/Paris/5121/history.htm

(3) Abraham Leon: Judenfrage und Kapitalismus, München 1971

(4) Zoltan Barany: Minderheiten, Ethnopolitik und die osteuropäischen Roma; in: Ethnos-Nation Nr. 2/1994, S. 8

(5) Günther Weiss: Sinti und Roma seit 600 Jahren in Deutschland. Zur Diskussion über den Charakter des Porrajmos im Vergleich zum Holocaust an den Juden siehe u.a. Guenter Lewy: “Rückkehr nicht erwünscht” Die Verfolgung der Zigeuner im Dritten Reich; Berlin 2001 (auf engl.: Persecution of the Gypsies; New York, 2000) Auch wenn Lewy die Vernichtung der Roma durchaus faktenreich darlegt, so können wir seiner Schlussfolgerung nicht zustimmen: „Ich glaube, daß heute genügend Beweise vorliegen, um diese Frage zu beantworten und die angebliche Parallelität (zwischen der Juden- und der Roma-Vernichtung, M.P.) zu verneinen.“ (S. 373) Die Roma wurden ebenso wie die Juden aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer ethnischen/religiösen Gruppe vernichtet und nicht wegen ihrer individuellen Taten. Die Nazis wollten sowohl die Juden als auch die Roma als Volk, in seiner Gesamtheit, vernichten. In beiden Fällen war die Auslöschung des gesamten Volkes – der Genozid – das erklärte Ziel.

(6) Zur marxistischen Analyse der stalinistischen Herrschaft siehe unsere Publikationen „The Degenerated Revolution“ bzw. „Die degenerierte Revolution“; ebenso unser theoretisches Organ „Revolutionärer Marxismus“ Nr. 32, das sich schwerpunktmäßig dem Aufstieg und Fall des Stalinismus widmet (alle können über unsere Kontaktadresse bezogen werden).

(7) Brigitte Mihok: Rechtliche Gleichstellung versus alltägliche Chancenungleichheit. Zur Situation der Roma in Ungarn; in: Nation Nr. 6/1998, S. 121

(8) Anna Jurova: Die Roma in der Slowakei; in: Ethnos-Nation, 2/1994, S. 46

(9) Donka Panayotova: Successful Romani School Desegregation: The Vidin Case; in: Roma Rights, No. 3-4/2002; http://errc.org/rr_nr3-4_2002/noteb8.shtml

(10) Anna Jurova: Die Roma in der Slowakei; in: Ethnos-Nation, 2/1994, S. 39

(11) Alexandra Nacu: Poverty, Ethnicity, and Identity in Romania: Reflections on the Status of the Roma; in: RFE/RL East European Perspectives Vol. 5, No. 12, 11 June 2003

(12) Wir haben den Zusammenbruch der stalinistischen Herrschaftssysteme und die Wiedereinführung des Kapitalismus in den letzten 10 Jahren ausführlich analysiert. Siehe dazu u.a. „Revolutionärer Marxismus“ Nr. 24, der sich schwerpunktmäßig mit der Wiedereinführung des Kapitalismus in Osteuropa auseinandersetzt.

(13) League of Human Rights Advocates (Slovakia): Report of Fact-Finding Mission on the Human Rights Situation of the Romany Community in Kosice; in: Human Rights Reporter, S. 15

(14) Alexandra Nacu: Poverty, Ethnicity, and Identity in Romania: Reflections on the Status of the Roma; in: RFE/RL East European Perspectives Vol. 5, No. 12, 11 June 2003

(15) Anna Jurova: Die Roma in der Slowakei; in: Ethnos-Nation, 2/1994, S. 32

(16) Dena Ringold: Poverty and Roma in Central and Eastern Europe: A View from the World Bank, In: Roma Rights, No. 1/2002; http://errc.org/rr_nr1_2002/noteb4.shtml

(17) siehe dazu auch: Lubos Palata: Out-of-Work But Not Up-in-Arms; http://archive.tol.cz/jul99/specr08009.html

(18) siehe z.B. Alexandra Wootliff-Bitukova: The EU’s Red Card – Roma in Slovakia; in: Central Europe Review 27.11.2000)

(19) Eva Sobotka: 1+1=3 – Roma in the Slovak educational system; in: Central Europe Review, 15.1.2001

(20) Tiffany G. Petros: Moving Forward Roma in the Czech Republic; in: Central Europe Review, 27.11.2000

(21) Nebenbei bemerkt war dies eine Erfindung der stalinistischen Bürokratie im Jahre 1961. siehe dazu: Claude Cahn, David Chirico, Christina McDonald, Viktória Mohácsi, Tatjana Perić and Ágnes Székely: Roma in the educational systems of central and eastern Europe; Roma rights Summer 1998, http://www.errc.org/rr_sum1998/notebook_2.shtml

(22) Mihai Surdu: The Quality of Education in Romanian Schools with High Percentages of Romani Pupils; in: Roma Rights, No. 3-4/2002; http://errc.org/rr_nr3-4_2002/noteb1.shtml

(23) Claude Cahn, David Chirico, Christina McDonald, Viktória Mohácsi, Tatjana Perić and Ágnes Székely: Roma in the educational systems of central and eastern Europe; Roma rights Summer 1998, http://www.errc.org/rr_sum1998/notebook_2.shtml

(24) Donka Panayotova: Successful Romani School Desegregation: The Vidin Case; in: Roma Rights, No. 3-4/2002; http://errc.org/rr_nr3-4_2002/noteb8.shtml

(25) Viorica Bucur: The Roma Population in Romania and its Education; in: Südosteuropa Mitteilungen 2/2003, S. 58

(26) Ulrich Glauber/Thomas Roser: Die Minderheit von 20 Millionen Roma in Europa erklärt sich bei einem Kongress in Prag zu einer eigenen Nation; in: Frankfurter Rundschau, 29.7.2000

(27) Peter Vermeersch: Romani political participation and racism: reflections on recent developments in Hungary and Slovakia; in: Roma Rights 4/2000, http://errc.org/rr_nr4_2000/

(28) Peter Vermeersch: Vying for Position; in: Central Europe Review 27.11.2000

(29) siehe The Economist: 20.3.1999; Business Central Europe, November 2000; Zoltan Barany: Die Waisenkinder der Transition; in: Ost-West-Gegeninformationen 3/1999, S. 4

(30) siehe u.a. Brigitte Mihok: Rechtliche Gleichstellung versus alltägliche Chancenungleichheit. Zur Situation der Roma in Ungarn; in: Nation Nr. 6/1998, S. 119ff.

(31) LRKI: Nationalismus, Nationalstaat und nationale Befreiung; in: Revolutionärer Marxismus, Nr. 15, S. 5; siehe auch www.arbeiterInnenstandpunkt.org

(32) Anna Jurova: Die Roma in der Slowakei; in: Ethnos-Nation, 2/1994, S. 31

(33) Beispielhaft für die weitgehende Perspektivlosigkeit der offiziellen Roma-VertreterInnen ist die im Roma-Journal abgedruckte Debatte „The Romani movement: what shape, what direction?“ (in: Roma Rights, No. 4/2001; http://errc.org/rr_nr4_2001/noteb3.shtml).