August-Aufstand in Britannien – Bericht der Intervention

Bericht der RKOB-Delegation über ihren Aufenthalt in London 2011


**Weitere Berichte folgen demnächst -Weitere Berichte folgen demnächst**


Die RKOB erachtet den Aufstand der Armen, der Schwarzen und MigrantInnen in Britannien als einen „historisches Moment“ – um es mit den Worten des schwarzen Bürgerrechtsaktivisten Darcus Howe zu formulieren. Die RKOB hat sich daher nach Beginn des Aufstandes entschlossen, eine Delegation von mehreren GenossInnen nach London zu entsenden, um die Ereignisse vor Ort zu studieren.

 

Wir haben zu diesem Zweck auf eine Broschüre mit englisch-sprachigen Artikeln der RKOB sowie der Jugendorganisation Rote Antifa vervielfältigt und in London vertrieben- Unsere Analyse dieses Aufstandes, der notwendigen revolutionären Taktik und den Lehren aus der Niederlage haben wir in zwei Artikeln dargelegt. (1) Im folgenden veröffentlichen wir den ersten Teil des Berichts der RKOB-Delegation.

 

Donnerstag, 11.August 2011

 

17:00 – 19:00


Nach fast 24 Stunden Busfahrt kommen wir in London an. Noch im Bus konnten wir diverse Geschäfte sehen, die ihre Auslagen mit Holz verkleidet haben. Ein Übermaß an Polizeiwagen fährt regelmäßig vorbei, wie auch eine Reihe von PolizistInnen auf den Straßen patrouilliert. Nach der Busfahrt geht es direkt mitsamt Gepäck zu einer Versammlung der Plattform „Coalition of Resistance“.


Auf dem Weg treffen wir einen Aktivisten der Plattform, namens Francis. Er ist ein junger schwarzer Mann Mitte zwanzig, der derzeit arbeitslos ist. Es ergibt sich ein sehr interessantes Gespräch über die Arbeitslosigkeit und Armut in den Vierteln (er selbst stammt aus Peckham) und zur Frage wie die sogenannten „riots“, der Aufstand der Jugendlichen, zu werten sind. Da wir etwas herumirren auf der Suche nach dem Universitätssaal ergibt sich ein längeres Gespräch. Im Zuge der Diskussion mit Francis wird sehr klar, wie wichtig es ist, eine revolutionäre Partei aufzubauen, die eine Verankerung in der ArbeiterInnenklasse hat und gerade auch ihre unterdrücktesten Schichten in den eigenen Reihen organisiert.


Die ArbeiterInnenbewegung hat bis heute gerade diese Schichten, die national bzw. rassisch Unterdrückten, die Jugendlichen, etc. weitgehend ignoriert. Auf Grund des permanenten Verrates durch die reformistische Führung durch ihre enge Anbindung an das kapitalistische System gibt es immer mehr Massenelemente, die nicht in den Gewerkschaften organisiert sind. Gleichzeitig sind es aber oftmals gerade die unterdrücktesten Schichten, die radikale Formen des Protestes gegen den Staat bzw. den Repressionsapparat wählen. Die RKOB tritt dafür ein, dass die ArbeiterInnenbewegung diese unterdrücktesten Schichten organisiert, ebenso wie wir als Organisation zum Ziel haben eine revolutionäre Partei aufzubauen, die gerade AktivistInnen aus solchen Schichten umfasst. Heute hat die RKOB einen Großteil an GenossInnen in ihren Reihen, die zu den untersten Schichten der ArbeiterInnenklasse gehören. Gerade diese Tatsache hat auch Francis in der Diskussion positiv gewertet.

 

19:00 – ca. 21:30


Die Versammlung der „Coalition of Resistance“ hat begonnen. Dies ist ein Bündnis verschiedener linker Organisationen und GewerkschafterInnen, dass sich gegen die Kürzungspolitik der konservativen Tory-Regierung gebildet hat. Etliche RednerInnen sind vom Podium aus vorgesehen. Uns fällt sehr stark auf, dass im Publikum in erster Linie organisierte AktivistInnen verschiedenster Gruppen da sind und weniger unorganisierte AktivistInnen wie Francis. Dementsprechend ist auch der Anteil an ArbeiterInnen, an MigrantInnen und schwarzen AktivistInnen sehr bescheiden.


Unweigerlich wird dennoch auch die Frage der Aufstände behandelt. Hauptsächlich werden zwei Positionen vertreten: Entweder Verurteilung der Aufstände als „chaotische riots“, die nur Schaden bringen, wenn auch der Ärger der Jugend verständlich sei. Oder aber weder Verurteilung noch Unterstützung der sogenannten „riots“ mit Betonung eines großen Verständnisses für den Frust der Jugend gegen das System. Angesichts der Haltung der anwesenden linken Organisationen zu den Aufständen ist das kein Wunder. Die ArbeiterInnenbewegung hat die Aufstände bestenfalls ignoriert oder im schlimmsten Fall scharf verurteilt – eine Position die von der opportunistischen Linken somit auch geteilt wird. Zudem waren die aufständischen proletarischen Jugendlichen gerade auch die Schichten der ArbeiterInnenklasse, die seit Jahrzehnten von der Linken ignoriert werden. Diese Tatsache wird uns heute besonders bewusst. Wir erkennen wie weit der Aristokratismus, den wir sogar in der LFI ausgemacht haben, in der gesamten britischen Linken vorhanden ist. London brennt, es ergibt sich die unglaubliche Möglichkeit in einen äußerst radikalen Protest zu intervenieren – doch die linken Organisationen konzentrieren sich mehrheitlich darauf in ihrem eigenen Saft zu schmoren.


Beeindruckt sind wir lediglich von der feurigen Rede einer schwarzen Frau vom Podium aus, deren Sohn von der Polizei im Mai ermordet wurde. Die Mutter von Demetre Fraser, prangert die Polizisten als Mörder an und betont, wie offensichtlich die Polizeigewalt gegen Schwarze auf der Tagesordnung steht. Im Gegensatz zur Position, die ein CWI (2) einnimmt, sind die PolizistInnen nicht „ArbeiterInnen in Uniform“ sondern ein bürgerlicher Repressionsapparat, der gegen die ArbeiterInnenklasse eingesetzt wird. „Mörder in Uniform“ trifft es daher sehr gut. Gleichzeitig wird vom Podium aus aber – vollkommen im Widerspruch zu den offensichtlichen Tatsachen – betont, dass ausschließlich friedfertige Proteste Sinn machen. Es wird sogar indirekt erklärt, dass eine Unterstützung seitens der Coalition of Resistance nur für Aktionen die „peaceful“ (friedfertig) verlaufen, gegeben ist.

Nach den Reden des Podiums gibt es auch eine Runde an Diskussion, die vom Publikum aus geführt werden kann. Wir von der RKOB nehmen teil.

 

Nina Gunic, Sprecherin der RKOB, bestätigt die Charakterisierung der Polizei als Mörder in Uniform, nicht nur in Britannien sondern weltweit. Sie legt dar, dass gerade die Ereignisse in London zeigen, wie naiv es wäre, Illusionen in friedliche Proteste zu haben. Das Ziel muss vielmehr sein, einen unbefristeten Generalstreik in Verbindung mit den Aufständen der Jugend zu organisieren. Denn die Regierung wird sich nicht einfach so stürzen lassen, sondern vielmehr ab einen gewissen Punkt ihren Repressionsapparat gegen den Generalstreik einsetzen. Somit ist ein friedvoller Protest zum Sturz der herrschenden Klasse eine absolute Illusion. Die uneingeschränkte Solidarität mit den Aufständen der Jugendlichen, und die Verbindung von Aktionen der ArbeiterInnenbewegung mit den Aufständen sind notwendig.


Außer uns gibt es lediglich noch eine SWP-Aktivistin (3), die die Solidarität mit den Aufständen der Jugendlichen betont. Es handelt sich momentan offensichtlich um eine unbeliebte Losung in den Reihen der britischen Linken. Angesichts der massenhaften Aufständen in den letzten Tagen ist das purer Verrat gegenüber den proletarischen Jugendlichen. Jede Organisation vor Ort, die jetzt offene Solidarität mit den Aufständischen scheut und sich scheut diese Solidarität auch in der Tat mit einer organisierten Teilnahme an den Aufständen unter Beweis zu stellen, hat den Prüfstein der Geschichte, den die Aufstände darstellen, nicht bestanden.


Gerade Ereignisse wie diese Aufstände zeigen, ob Organisationen nicht nur ein den Worten nach ein marxistisches Programm haben, sondern dieses auch konkret umsetzen können, um die Avantgarde im Klassenkampf politisch führen zu können. Es macht gerade den Zentrismus aus, dass er letzteres scheut wie der Teufel das Weihwasser – ja noch nicht einmal wenn die Organisation auf einem revolutionären Programm steht wie das bei der LFI noch der Fall ist, und schon gar nicht mit einer zentristischen Programmatik wie sie eine SWP, CWI oder IMT hat.


Wir vermuten, dass die Intervention in ArbeiterInnenbezirke Londons von diesen Kräften wohl sehr bescheiden ausfallen wird und sind auf die kommenden Tage gespannt.

 

22:30-02:00


Den späteren Abend über bemühen wir uns herauszufinden, ob es zu weiteren Aufständen kommen wird. Wir sind gewappnet bei eventuellen Aktionen sowohl mit unserer Propaganda und Agitationsmaterialien, als auch praktisch teilzunehmen. Die Nacht aber bleibt ereignislos.

 


Freitag, 12.August 2011

 

07:30 – 13:00


Wir bereiten uns auf einen Tag in Tottenham vor. Materialien werden gepackt, der Stadtplan wird auf Jugendzentren und Knotenpunkten von Ereignissen durchgesehen. Uns ist klar: Wir werden sowohl mit den EinwohnerInnen des Viertels reden als auch versuchen, einen Eindruck der Lage vor Ort zu bekommen. Zudem gilt es, den Bezirk genau kennenzulernen, um am späteren Abend nicht aus Versehen in Sackgassen oder ähnliches zu laufen. Wir besorgen uns eine billige Kamera, da wir Videobotschaften wie auch Fotos aufnehmen werden.

 

14:00-19:00


Als wir in Tottenham ankommen, sind wir überrascht: Es sind nur sehr wenige Menschen auf der Straße. Wir durchforsten die Wohnblöcke Tottenhams. Kinder unter 10 Jahren sind am Gehsteig und spielen. Ab und zu kommt ein Erwachsener vorbei. Die Stimmung ist gedrückt. Wir nehmen uns die Zeit und sehen uns die Wohnblöcke genauer an. Müll liegt nicht nur offen auf der Straße, sondern sogar auf den Zwischenetagen. Die Kinder haben zu einem Gutteil zerschlissene Kleidung an und sind sehr dünn. Sie lachen und spielen. Während wir uns umsehen, hören wir auch mit halben Ohr den Gesprächen der Kinder zu. Ein schwarzer Junge unterhält sich lautstark mit einem Freund und erzählt, dass sein älterer Bruder noch immer nicht nachhause gekommen ist. Seine Familie weiß nicht wo er steckt, aber die Polizei wird es sicher wissen. Er selbst freut sich darauf bald älter zu werden, denn ihn wird niemand schnappen können. Seine Eltern meinen nur, dass es Zeit wurde, dass etwas passiert. Die Polizei hätte ihn im jeden Fall mal aufgegriffen und verhaftet, egal was er getan hätte. So gab es zumindest eine Art von Widerstand. Aber der Freund soll das für sich behalten. Seine Eltern mögen es nicht, dass er ihre Gespräche belauscht.


Als MarxistInnen wissen wir, dass die Repression der Polizei wie des gesamten Staatsapparates in den kommenden Tagen wie eine Walze über die AktivistInnen aber auch breite Teile der national bzw. rassisch unterdrückten Schichten fahren wird. Denn die organisierte ArbeiterInnenbewegung hat sich noch immer nicht auf die Seite der proletarischen Jugend gestellt – und ohne diese sind es die kleinbürgerlichen Vorsitzenden in den Communitys, die den alleinigen Führungsanspruch stellen.

Wir werden darin bestätigt, da sich Berichte häufen, das es organisierte Interventionen dieser Vorsitzenden zusammen mit mobilisierten Mitgliedern der Community gab, um mit den Jugendlichen zu reden und sie von einer Weiterführung der Aufstände abzubringen. Unter dem Motto „zerstören wir nicht unsere eigenen Vierteln“ wurde von den Kirchen, Moscheen, Gemeindezentren und anderen Einrichtungen ermahnt, ausschließlich „friedfertig“ zu demonstrieren. Der Druck der dadurch aufgebaut wurde, erstickt die Proteste.


Wir kommen von den Wohnvierteln auf die Hauptstraßen. Währenddessen ist es schon Nachmittag geworden. Tottenham ist uns inzwischen vertraut und wir verstehen uns sehr gut mit den Leuten im Viertel. Es handelt sich zu einem Gutteil um Schwarze oder MigrantInnen. Wir fallen ihnen durch unser Aussehen auf. Die meisten Weißen sind keine Einwohner sondern Polizisten. Der Arbeiterbezirk hat offensichtlich selten Besuch von AktivistInnen linker Organisationen bekommen. Die einzige Organisation, die sich im Bezirk mittels Stickern und Graffiti verewigt hat, ist die MLKP.


Während wir durch die Hauptstraße ziehen bis rauf nach Enfield (nördlicher Stadtteil oberhalb von Tottenham) fällt uns auf: Die Geschäfte, die demoliert wurden sind in erster Linien Wettbüros. Mit Holzbrettern verkleidet sind etliche Läden, aber es liegt bei diesen kein bisschen Glas am Schaufensterbrett. Die Wettläden dagegen haben überall feine Glassplitter liegen, die man nicht so leicht entfernen kann. Viele Läden haben also präventiv die Fenster mit Holz verkleidet, nicht weil sie angegriffen wurden. Eine Tatsache, die sowohl Journalisten als auch Leute die lediglich vorbeifahren nicht wahrnehmen würden. Wir sind von dieser Erkenntnis erfreut, zumal es eindeutig zu den Beobachtungen gehört, die man nur vor Ort machen kann.


Wir kommen ins Gespräch mit einer jungen schwarzen Frau, Laura. Anfangs ist sie noch sehr distanziert, sagt uns nicht sehr viel und meint, die „riots“ seien abzulehnen. Wir geben ihr nicht Recht sondern betonen, dass die Aufstände sehr unterstützenswert sind und es wichtig ist, solidarisch zu sein bzw. auch teilzunehmen. Wir erklären, dass wir sogar aus Österreich angereist sind, weil wir das für sehr wichtige Ereignisse halten und wenn möglich daran teilnehmen werden. Zwar sei es falsch, die Nahversorgung und Wohnblöcke anzugreifen, aber wenn es passiert ist, dann deswegen, weil die Proteste keine Organisierung, keine Führung hatten.

 

Das ist nicht die Schuld der Jugendlichen, sondern der Führungen der organisierten ArbeiterInnenbewegung. Unser Englisch ist offensichtlich nicht das Beste, aber wir verstehen uns mit ihr. Sie lächelt während unserer Erklärungen, ihr Tonfall ändert sich plötzlich und wir merken: Die Aussage von ihr vorhin geschah nur aus reiner Vorsicht. Sie glaubt uns, und vermutet wohl nicht mehr, dass wir sie reinlegen wollen. Sie erzählt, dass ihre Schwester und Freunde von ihr teilgenommen haben. Sie selber war nicht dabei, weil ihre Schwester dagegen war. Seitdem ist ihre Schwester untergetaucht, weil die CCTVs (Videokameras) sie eventuell gefilmt haben. Wir reden noch eine Zeit lang, dann wird sie angerufen und wir verabschieden uns.


Das Gespräch mit Laura war sehr wichtig, weil es uns darin bestätigt hat, wie tiefgehend der politische Fehler der Gewerkschaften ist, die ArbeiterInnen der unteren Schicht nicht massenhaft zu organisieren. Ebenso wird das Fehlen einer revolutionären Jugendorganisation, die sich auf diese Schichten orientiert deutlich. Denn auch wenn es eine Reihe von linken Organisationen in Britannien gibt und diese sogar in ihren internationalen Organisationen einen Hauptteil der Führung ausmachen, ist ihre abgehobene Ignoranz gegenüber diesen Schichten mehr als offensichtlich.

Auf unsere Anfrage hin kannte Laura (nicht ganz überraschend) keine dieser Gruppen. Sie wird in Tottenham nicht die einzige sein, der es so geht.

 

19:00-00:30


Es wird langsam aber sicher dunkel. Damit steigt auch der Anteil an Polizisten auf der Straße überdurchschnittlich. Keine zwei Minuten können wir unterwegs sein, ohne dass zwei PolizistInnen, in der Regel ein Mann und eine Frau uns entgegenkommen. Wir haben bisher nur weiße PolizistInnen gesehen. Sie tragen gelbe Warnwesten auf denen „Community Support“ steht. Dieser sogenannte „Support“ bedeutet keineswegs, dass sie nicht bewaffnet sind. Im Gegenteil: Volle Montur, nur eine andere Schrift auf der Warnweste als sonstige PolizistInnen.


Was wir noch beobachten können: Die Polizei patrouilliert mit Fahrzeugen und hält alle paar Meter absolut grundlos Autos an, um die FahrerInnen zu kontrollieren. Dabei verstecken sie sich teilweise an der Ecke, teilweise bei einer Busstation, so dass bei stehendem Bus niemand von den entgegenkommenden FahrerInnen den Polizeiwagen dahinter sehen kann. Sie durchsuchen nicht nur den Wagen und notieren sich die Details aus den Ausweisen, sie verhören auch auf offener Straße die FahrerInnen, wo sie die letzten Tage gewesen seien und halten sie an, Freunde und Familie zu verraten, wenn jemand von diesen an den „riots“ teilgenommen hat. Für uns nicht überraschend, sehen wir, wie die PolizistInnen ausschließlich die schwarzen EinwohnerInnen und die MigrantInnen mit etwas dunklerer Hautfarbe kontrollieren. Weniger als FußgängerInnen auf der Straße, als in den Autos gibt es aber sehr wohl auch einen Teil an Weißen, der von der Polizei während unseres gesamten Aufenthalts kein einziges Mal aufgehalten wurde. Wir hören dauernd Sirenengeheule von Polizeiwagen. Ebenso sehen wir wie stündlich ein Hubschrauber über Tottenham mehrere Runden zieht.


Uns fällt auf, dass eine Telefonzelle zerstört wurde, wobei lediglich die Glasfenster eingeschlagen wurden. Der Apparat selbst funktioniert einwandfrei. Auch wurde an verschiedenen Busstationen das Glas zerschlagen. Einige wenige Stangen mit Verkehrszeichen sind etwas verbogen. Letzteres ist aber wohl eher vor den Aufständen passiert, wenn Autos daran vorbeigeschrammt sind, da es wohl mehr an Kraft zum Verbiegen erfordert, als einzelne Aufständische aufbringen könnten. Heute sehen wir kein einziges Wohnhaus, wie auch kein einziges Geschäft, das zerstört wurde. Nur vier Wettbüros (zwei William Hills, ein Coral und ein anderes), eine Bank und zwei Bankomaten sowie die genannten Busstationen und die Telefonzelle.


Trotz oder gerade wegen der permanenten Polizeipatrouille bleibt es auch diese Nacht bis auf die dauernde Polizeischikane ruhig. Wir bekommen die Meldungen über die andauernden Verhaftungen von AktivistInnen mit. Heute sind es angeblich schon mehr als 1.600 Verhaftete. Die Repressionen scheinen voll angerollt zu sein. Wir vermuten, dass der Höhepunkt der Aufstände überschritten ist und der jetzige Abschwung noch einige Zeit andauern wird. Es wird auch eine massive Hetze betrieben, die kaum in Worte zu fassen ist. Wir holen uns diverse Zeitungen, die alle mitsamt die Aufständischen als „looters“ denunzieren und den einen oder anderen Ladenbesitzer als „Lokalhelden“ abdrucken, weil er sich gegen die angeblichen RandaliererInnen zur Wehr gesetzt habe. Interessanterweise sind diese „Lokalhelden“ keine Schwarzen, sondern größtenteils Weisse sowie einige MigrantInnen.


Das Schundblatt „London Evening Standard“ (eine gratis Zeitung) hat sogar eine Berichtkampagnen gestartet unter dem Motto „S.O.S. – Save our shops!“ In der heutigen Ausgabe, die wir auf der Heimfahrt nach Mitternacht lesen, gibt es aber auch einen Artikel der über den Onkel des ermordeten Mark Duggan berichtet. Dieser war angeblich Schwerverbrecher und hätte mehr Waffen gehortet als eine Polizeiwache erfasst. Damit wird eindeutig versucht, Duggan, der von der Polizei faktisch exekutiert wurde, als Mitglied einer kriminellen Familie zu verleumden. Gerade an solchen Berichten wird es ganz besonders offensichtlich, dass es so etwas wie „freie Presse“ nicht gibt. Im Klassensystem schreibt die Presse im Dienste der herrschenden Klasse. Die herrschende Klasse in Britannien hat das Interesse, die Aufstände zu denunzieren. Die bürgerliche Presse ist dabei ein wichtiges Mittel.


Wir machen uns fertig und fahren nach Hause. Es ist schon nach Mitternacht und bis auf die Polizeieinsätze gibt es keine weiteren Vorfälle. Es ist sehr ruhig auf den Straßen. Wir merken wie ungewöhnlich das ist, denn die meisten Läden hätten noch knapp bis Mitternacht offen.

 

Anmerkungen:

(1) Siehe Nina Gunić und Michael Pröbsting: Das sind keine „Riots“ – das ist ein Aufstand der Armen in den Städten Britanniens! Die strategische Aufgabe: Vom Aufstand zur Revolution! 10.8.2011, Revolutionäre Befreiung Nr. 198 und http://www.rkob.net/international/aufstand-der-armen-in-britannien (auf englisch findet sich der Artikel leicht gekürzt unter http://www.rkob.net/new-english-language-site-1/uprising-of-the-poor-in-britain/) sowie Michael Pröbsting: The August uprising of the poor and nationally and racially oppressed in Britain: What would a revolutionary organisation have done? 18.8.2011, http://www.rkob.net/new-english-language-site-1/august-uprising-what-should-have-been-done/

(2) Committee for a Workers International, die englische Sektion heisst Socialist Party, die deutsche SAV und die österreichische SLP

(3) Socialist Workers Party, ihre deutsche Schwesterorganisation heisst Marx21 und ihre österreichische Linkswende