Manifest zum Ersten Jahrestag des Ukraine-Krieges

 

Sieg dem heldenhaften ukrainischen Volk! Nieder mit dem russischen Imperialismus! Keine Unterstützung für den NATO-Imperialismus!

Manifest der Revolutionär-Kommunistischen Internationalen Tendenz (RCIT), gemeinsam herausgegeben vom Internationalen Büro und Socialist Tendency (Russland), 10. Februar 2023, www.thecommunists.net und www.socialisttendency.com

 

Da wir uns dem ersten Jahrestag des Ukrainekrieges nähern, sendet die Revolutionär-Kommunistischen Internationalen Tendenz (RCIT) und ihre Sektion in Russland – die Socialist Tendency – unsere herzlichsten Grüße an das heldenhafte ukrainische Volk. Seit dem 24. Februar 2022 widerstehen unsere Brüder und Schwestern unter schwierigsten Umständen dem barbarischen Ansturm der russischen Armee! Nach inoffiziellen Zahlen wurden etwa 100.000 ukrainische Soldaten getötet oder verwundet, hinzukommen etwa 30.000 zivile Tote. Gleichzeitig hat die russische Armee 180.000 Tote und Verwundete zu beklagen. Während Putin versucht, die Ukraine in die Steinzeit zurückzubomben, frieren und hungern große Teile der Bevölkerung.

Unsere besten Grüße senden wir auch an die mutigen SozialistInnen in Russland, die der Welle des Chauvinismus und Militarismus nicht erliegen und im Geiste eines konsequenten Antiimperialismus das Banner der Unterstützung für die Ukraine hochhalten!

Der Ukrainekrieg ist ein historisches Ereignis, das die Weltlage in den letzten 12 Monaten geprägt hat. Es ist nicht nur ein großer Krieg im Herzen Europas, sondern hat auch globale Auswirkungen. Er hat eine Nahrungsmittel- und Energiekrise ausgelöst, die auf allen Kontinenten zu spüren ist – vor allem in den ärmsten Regionen des globalen Südens. Darüber hinaus hat es die interimperialistische Rivalität zwischen den Großmächten, insbesondere der NATO und Russland, beschleunigt. Daher verschärft der Krieg die Rezession der kapitalistischen Weltwirtschaft sowie die politische Polarisierung innerhalb wichtiger Länder. Kurz gesagt, der Ukrainekrieg hat den Grundstein für revolutionäre und konterrevolutionäre Explosionen rund um den Globus gelegt.

Die RCIT und alle authentischen SozialistInnen haben sich von Anfang des Krieges an auf die Seite der ukrainischen Landesverteidigung gestellt. Während wir die bürgerliche Selenskyj-Regierung keinesfalls politisch unterstützen, fordern wir materielle Hilfe – einschließlich militärischer Güter – für den ukrainischen Widerstand.

Gleichzeitig betonen wir den Doppelcharakter des Konflikts, da er nicht nur ein nationaler Befreiungskrieg der Ukraine ist, sondern gleichzeitig auch mit der sich beschleunigenden Rivalität zwischen den imperialistischen Mächten verbunden ist. Daher erfordert eine konsequente internationalistische und antiimperialistische Position ebenso eine Doppeltaktik. SozialistInnen sind verpflichtet, die Ukraine – ein halbkoloniales kapitalistisches Land – gegen den russischen Imperialismus zu verteidigen. Gleichzeitig dürfen sie die chauvinistische und militaristische Politik einer Großmacht gegenüber ihren Rivalen in keiner Weise unterstützen. Daher ist es unzulässig, Wirtschaftssanktionen oder ähnliche Großmachtmaßnahmen zu unterstützen. Die RCIT hat einen solchen Zugang in dem Slogan zusammengefasst: „Verteidigt die Ukraine gegen Putins Invasion! Gegen Russland und gegen den Nato-Imperialismus!“

Schon früh hat sich die RCIT in Solidarität mit dem ukrainischen Volk an praktischen Aktivitäten beteiligt. Wir initiierten bzw. nahm an drei Solidaritätskonvois teil, die Hilfe in die Ukraine brachten (gemeinsam mit tschetschenischen und krimtatarischen Organisationen sowie mit ILNSS und LIT-CI). Ebenso haben wir öffentliche Kundgebungen in Solidarität mit dem ukrainischen Volk mitorganisiert. (Siehe dazu verschiedene Berichte auf unserer Website, https://www.thecommunists.net/rcit/international-workers-aid/)

Darüber hinaus haben unsere GenossInnen in Russland mit GenossInnen von Socialist Alternative und ehemaligen Mitgliedern der russischen IMT-Sektion einen internationalistischen und antiimperialistischen Block gebildet, um gemeinsam eine Politik im Geiste des revolutionären Defätismus voranzutreiben (siehe https://www.thecommunists.net/rcit/joint-anti-imperialist-initiative-of-revolutionary-socialists-in-russia).

Wie wir von Anfang an gesagt haben, kann angesichts des Doppelcharakters des Konflikts nicht ausgeschlossen werden, dass sich das politische Wesen des Krieges in Zukunft ändern wird. Beispielsweise könnte ein direktes Eingreifen von NATO-Truppen den Krieg in der Ukraine von einem gerechten Krieg der Landesverteidigung in einen interimperialistischen Krieg zwischen Großmächten verwandeln. In einem solchen Fall wären die Sozialisten gezwungen, ihre Taktik von der revolutionären Verteidigung der Ukraine in eine defätistische Position zu ändern. Dies ist jedoch nur eine Möglichkeit für die Zukunft und Revolutionäre stützen ihre Strategie auf die Fakten von heute und nicht auf Spekulationen über morgen.

 

Ein entscheidender Test für SozialistInnen

 

Angesichts seiner historischen Bedeutung ist der Ukrainekrieg ein entscheidender Test für alle fortschrittlichen ArbeiterInnen und Volksorganisationen. Dies nicht nur wegen der globalen Bedeutung dieses Konflikts für die Weltlage. Es ist auch ein prägendes Ereignis, da es ein Präzedenzfall für zukünftige Konflikte ist. Da wir in einer historischen Periode des kapitalistischen Niedergangs leben, ist es unvermeidlich, dass wir eine steigende Zahl von Konflikten und Kriegen erleben werden, in denen eine Großmacht ein halbkoloniales Land angreift, das wiederum Hilfe von einem rivalisierenden imperialistischen Staat erhält. Leider hat die überwiegende Mehrheit der linken Organisationen den Test dieses Mal nicht bestanden.

 

Putinisten und Semi-Putinisten

 

Eine Reihe stalinistischer und populistischer Parteien sowie ihre pseudo-trotzkistischen Nachahmer haben sich schändlicherweise dem Lager des russischen Imperialismus angeschlossen, da sie Putins Invasion als „Verteidigungsakt“ gegen die NATO rechtfertigen. Absurderweise leugnen sie die imperialistische Natur Russlands und unterstützen faktisch Putins Bemühungen, die Ukraine in eine Kolonie des Kremls zu verwandeln.

Beispiele für solche sozialimperialistischen Verräter sind stalinistische Parteien in Russland (z.B. KPRF, RKRP, OKP) und in vielen anderen Ländern, die sowohl die sogenannte „Erklärung von Havanna“ als auch die „Erklärung von Paris“ (beide verabschiedet in Oktober 2022) mitunterzeichneten. Andere Beispiele sind die Gruppierung um EEK (Griechenland) und DIP (Türkiye) sowie verschiedene Sekten in der spartakistischen Tradition.

Diese Putinisten und Halb-Putinisten sind Erzfeinde der ArbeiterInnen und Unterdrückten. SozialistInnen müssen ihren reaktionären Einfluss innerhalb der Organisationen der ArbeiterInnen und Volksmassen entschlossen bekämpfen.

 

Reaktionäre Enthaltung und die Theorie des „Stellvertreterkrieges“

 

Andere bürgerlich-populistische, stalinistische und selbsternannte Trotzkisten nehmen im Ukraine-Krieg eine neutrale, sich enthaltende Position ein. Anders als die Putinisten stellen sie sich nicht offen auf die Seite des barbarischen Kreml-Krieges. Sie leugnen jedoch das Recht des ukrainischen Volkes, sich der Kolonialisierung zu widersetzen, und prangern ihren legitimen Kampf als „Stellvertreterkrieg“ im Interesse des NATO-Imperialismus an.

Die von Leo Trotzki gegründete Vierte Internationale erklärte einmal: „Der Kampf gegen den Krieg und seinen sozialen Ursprung, den Kapitalismus, setzt direkte, aktive und unzweideutige Unterstützung der unterdrückten kolonialen Völker in ihren Kämpfen und Kriegen gegen den Imperialismus voraus, Eine „neutrale“ Position ist gleichbedeutend mit einer Unterstützung des Imperialismus.“ (Resolution zum Antikriegskongress des Londoner Büros, 1936[i]) Dies gilt nicht weniger für den heutigen Ukrainekrieg! Eine reaktionäre abstinente Position im nationalen Befreiungskampf des ukrainischen Volkes einzunehmen ist gleichbedeutend mit einer indirekten Unterstützung des russischen Imperialismus!

Beispiele für solche Verfechter reaktionärer Enthaltung sind die bürgerlich-populistische Progressive International (Lula, Bernie Sanders, Yanis Varoufakis etc.), das von der griechischen KKE geführte stalinistische Bündnis, kleinbürgerliche Pazifisten sowie verschiedene zentristische „trotzkistische ” Organisationen (z. B. FT/PTS, IMT, CWI, ISA)

Eine besondere Form einer solchen reaktionären Enthaltsamkeit wird von einigen „trotzkistischen“ Kräften befürwortet, die abstrakt das Recht des ukrainischen Volkes anerkennen, sein Land gegen den russischen Imperialismus zu verteidigen, aber gleichzeitig jede materielle Unterstützung für diesen Kampf strikt ablehnen. Schlimmer noch, sie rufen dazu auf, die Militärhilfe für die Ukraine zu sabotieren. Eine solche platonische „Unterstützung“ für die Ukraine ist eine Verhöhnung des Antiimperialismus und führt faktisch zu derselben beschämenden Politik wie die anderen Befürworter der reaktionären Enthaltung.

 

Pro-westliche Unterstützer des ukrainischen Befreiungskampfes

 

Verschiedene europäische Reformisten – wie prowestliche Sozialdemokraten in LINKE (Deutschland) oder PODEMOS/PCE/IU (Spanien) – verbinden verbale Solidarität mit der Ukraine mit offener Unterstützung für imperialistische Aufrüstung und antirussische Sanktionen. Ihre Unterstützung für die Ukraine ist nichts als ein Feigenblatt für ihren Pro-NATO-Sozialimperialismus.

Von solchen Lakaien westlicher Großmächte – und in angenehmem Kontrast zu ihnen – unterscheiden sich jene regierungsfeindlichen SozialistInnen, die den Kampf des ukrainischen Volkes unterstützen und sich an Solidaritätsaktionen beteiligt haben. Die RCIT und andere authentische Sozialisten haben mit diesen GenossInnen zusammengearbeitet und werden dies auch weiterhin tun.

Es darf jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass solche Kräfte eine korrekte Unterstützung der Ukraine mit einer prinzipienlosen Unterstützung der Großmachtpolitik durch den NATO-Imperialismus verbinden. Am wichtigsten ist, dass sie der chauvinistischen Sanktionspolitik und ähnlichen Maßnahmen, die die USA und ihre europäischen Verbündeten gegen Russland verhängt haben, nicht konsequent entgegentreten. Diese GenossInnen verstehen nicht, dass diese Politik in erster Linie kein Instrument zur Unterstützung des ukrainischen Volkes ist, sondern eher ein Instrument des Großmachtchauvinismus im Kontext der sich beschleunigenden interimperialistischen Rivalität.

Beispiele für eine solche Politik sind Organisationen wie die Anhänger Mandels der sogenannten „Vierten Internationale“ oder die in Lateinamerika ansässige LIT-CI.

 

Lehren für die Zukunft

 

Der Ukrainekrieg und das Versagen der fortschrittlichsten Kräfte, eine internationalistische und antiimperialistische Position einzunehmen, sind wichtige Lehren für die Zukunft. Um eine konsistente revolutionäre Linie zu vertreten, ist es notwendig, eine konkrete Taktik in den breiteren Rahmen der marxistischen Analyse und Prinzipien zu integrieren.

Das bedeutet, dass es unmöglich ist, in einer von Kriegen und Großmachtrivalitäten geprägten Weltlage ohne eine marxistische Analyse des imperialistischen Charakters, nicht nur des „alten“ Westens, eine richtige Orientierung zu finden (USA, Westeuropa, Japan), aber auch der neuen Ostmächte (China und Russland).

Das bedeutet auch, dass es unmöglich ist, in einer von Großmachtrivalität geprägten Weltlage eine richtige Orientierung zu finden, ohne die Pflicht für SozialistInnen zu erkennen, eine Position des revolutionären Defätismus gegen alle Großmächte einzunehmen.

Darüber hinaus ist es unmöglich, in einer von imperialistischem Zwang geprägten Weltlage eine richtige Orientierung zu finden, ohne eine marxistische Analyse des halbkolonialen Charakters der Länder des Globalen Südens, d.h. dass diese Völker unterdrückt und überausgebeutet werden, von imperialistischen Mächten und Monopolen.

Darüber hinaus ist es unmöglich, in der gegenwärtigen Weltlage eine richtige Orientierung zu finden, ohne die Pflicht für SozialistInnen zu erkennen, halbkoloniale Länder und unterdrückte Völker gegen imperialistische Aggression und reaktionäre Diktaturen zu verteidigen. Eine solche Verteidigung beinhaltet das Anwenden der Taktik der antiimperialistischen Einheitsfront, die sich an jene Kräfte richtet, die an der Spitze eines legitimen Befreiungskampfes stehen.

Die wichtigste Lektion ist schließlich die Notwendigkeit für authentische SozialistInnen, die sich auf die oben genannten Prinzipien stützen, ihre Kräfte zu vereinen. Die turbulente Weltlage, geprägt von explosiven Widersprüchen, lässt keine konservative Routine und kein organisatorisches Sektierertum zu!

 

Verteidigt die Ukraine gegen Putins Invasion!

Gegen den russischen Imperialismus und gegen den NATO-Imperialismus!

Vorwärts beim Aufbau einer neuen Weltpartei der Sozialistischen Revolution!

 

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Wir weisen die LeserInnen auf eine spezielle Unterseite unserer Website hin, auf der mehr als 150 RCIT-Dokumente zum Ukrainekrieg und zum aktuellen NATO-Russland-Konflikt zusammengestellt sind: https://www.thecommunists.net/worldwide/global/compilation-of-documents-on-nato-russia-conflict/. Insbesondere verweisen wir auf das Dokument: RCIT-Manifest: Ukraine War: A Turning Point of World Historic Significance. Socialists must combine the revolutionary defense of the Ukraine against Putin’s invasion with the internationalist struggle against Russian as well as NATO and EU imperialism, 1 March 2022, https://www.thecommunists.net/worldwide/global/manifesto-ukraine-war-a-turning-point-of-world-historic-significance/

In deutscher Sprache ist dieses Manifest lesbar unter: Ukraine-Krieg: Ein Wendepunkt von welthistorischer Bedeutung. Sozialistinnen und Sozialisten müssen die revolutionäre Verteidigung der Ukraine gegen Putins Invasion mit dem internationalistischen Kampf gegen den russischen sowie den NATO- und EU-Imperialismus verbinden. Manifest der Revolutionär-Kommunistischen Internationalen Tendenz (RCIT), 1. März 2022, https://www.thecommunists.net/worldwide/global/manifesto-ukraine-war-a-turning-point-of-world-historic-significance/#anker_4 sowie https://www.diekommunisten.net/international/aktionsprogramm-m%C3%A4rz-22/

 



[i] Nach Schriften zum imperialistischen Krieg. Frankfurt am Main 1978, S. 104-106, digitalisiert: https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/1936/leo-trotzki-resolution-zum-antikriegskongress-des-londoner-bueros