Eine neue Demokratie?

Anmerkung der Redaktion: Unsere Organisation RKOB wurde von Mitgliedern, die vormals in der Liga für die Fünfte Internationale (LFI) organisiert waren gegründet. Den folgenden Text  zählt RKOB somit zu ihrem programmatischen Erbe.

 

Hannes Hohn, Infomail 525, 15. Dezember 2010

http://fifthinternational.org/


Um sein wenig überraschendes, dafür aber umso klareres Votum für S 21 zu verschönern, erging sich Schlichter Heiner Geissler in Beschwörungen zur Erneuerung der Demokratie, für mehr Bürgerbeteiligung und einer Übernahme von Volksentscheiden wie in der Schweiz. Letzteres hatte schon etwas makabre Züge, da das jüngste Votum der SchweitzerInnen in offen rassistischer Manier die leichtere Abschiebung ungeliebter AusländerInnen ermöglicht.


Da Geisslers Schlichtung nur das ohnehin erwartete Ergebnis - eine grundsätzliche Bestätigung von S 21 - brachte, wurde er nicht müde, seine Schlichtung als Modell für künftige Konflikte um Mega-Projekte wie S 21 anzupreisen. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusehen, dass Geisslers Reformvorschläge zur Verbesserung der Demokratie in nächster Zeit von allen möglichen systemkonformen Weltverbesserern aufgegriffen und Zeitungsspalten und Talkshows füllen werden.


Was ist von Geisslers Vorschlägen zu halten? Können sie das immer stärker schwindende Vertrauen in „die Politik“, in „die Parteien“ und in die Demokratie insgesamt wieder stärken - ja, können sie die bürgerliche Demokratie wirklich verbessern, transparenter und „volksnäher“ machen?


Heuchelei und Lügen


Schon die Art, wie Geissler die Ergebnisse der Schlichtungsgespräche und deren Zustandekommen präsentierte, macht klar, warum die vor dem Rathaus zeitgleich demonstrierenden S 21-GegnerInnen „Lügenpack, Lügenpack“ skandierten. Mit keinem Wort ging Geissler darauf ein, dass erst die massiven Proteste gegen S 21 überhaupt ermöglichten, dass der Bahn-Konzern, die Stadt Stuttgart und die Landesregierung sich genötigt sahen, an einer Schlichtung teilzunehmen.


Mit keinem Wort erwähnte Geissler, dass die Eskalation von Gewalt von Seiten des Staates ausging. Bei allen Ermahnungen zu mehr und besserer Demokratie „vergaß“ er zu fordern, die Verantwortlichen für die Polizeigewalt - Polizeiführung, Stadt- und Landesregierung - zur Verantwortung zu ziehen. Offenbar hört für den Reformer Geissler die Demokratie gerade dort auf, wo sie anfangen müsste - dort, wo sie den Herrschenden weh tut: in der Frage des Gewaltmonopols des Staates, der Aufdeckung der internen Befehls- und Machtstrukturen und der persönlichen Haftbarkeit bürgerlicher Mandatsträger und Spitzenfunktionäre.


Wer von der Macht nicht reden will, soll von der Demokratie schweigen!


Nahezu grotesk wurde Geisslers Schlichtungs-Fazit, als er so tat, als hätte sich erst durch die Schlichtung herausgestellt, dass die S 21-KritikerInnen auch seriöse und realistische Vorschläge haben.


Ungewollt komisch wirkte Geissler dann, als er einräumte, dass S 21 gerade einmal „11 Minuten Fahrzeitverkürzung“ brächte. De facto kostet also jede so gewonnene Minute etwa 500 Millionen Euro - fürwahr ein Projekt historischer Dimension!


Dass Geisslers Demokratie-Vorschläge insgesamt nichts als Illusionen und politische Nebelkerzen sind, wurde von ihm selbst ungewollt verdeutlicht.

Bürgerentscheid vs. Kapitalinteressen?


Bezeichnend war bei seinem Bekenntnis zur Weiterführung von S 21 nämlich, dass er überhaupt keinen sachlichen Grund anführte, der S 21 gegenüber dem Alternativkonzept K 21 auszeichnet. Die Hauptgründe, die für S 21 sprechen, waren die drohenden Klagen der Bahn wg. Vertragsbruchs und die daraus entstehenden Strafzahlungen von ca. einer Milliarde.


Diese „Begründung“ zeigt sehr deutlich, dass es im Kapitalismus bei Projekten wie S 21 am wenigsten um Sachfragen geht oder etwa darum, reale Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen, sondern darum, Profit zu machen. Und diese Profite sind auch in Form von Verträgen bzw. Vertragsstrafen juristisch verankert und abgesichert.


Egal, ob die Bevölkerung in das Projekt involviert war oder nicht - einklagbar ist das nicht. Egal, ob das Projekt sinnvoll ist oder nicht - es ist juristisch einwandfrei über die Bühne gegangen.


Es geht also, wie Geissler in seiner Begründung damit indirekt zugibt, eben nicht um Sachfragen. Es geht um die juristisch und demokratisch - also machtpolitisch - abgesicherten Interessen der Konzerne, Immobilienhaie, Spekulanten und der mit ihnen verbandelten Politikerkaste.


Das alles war natürlich schon vor der Schlichtung klar. Selbst bei einem anderen Ausgang der Schlichtung hätten Bahn und Co. geklagt und wohl auch Recht bekommen - es sei denn, alle Richter wären besoffen gewesen. Denn S 21 ist ein Präzedenzfall erster Güte: entschieden die Richter für die S 21-GegnerInnen, so wären auch andere Großprojekte und damit massive Profitmöglichkeiten vakant.


Doch ganz abgesehen von diesen juristischen Fragen gibt es noch andere, durchaus handfestere Gründe, warum Geisslers Demokratie-Vorschläge ins Leere gehen.


Egal, wie die Regelungen für Großprojekte aussehen würden und wie viel „Bürgerbeteiligung“ in sie einflösse - am Ende ist es immer das Kapital, das daran verdient. D.h. am sozialen und Klasseninhalt würden auch Geisslers Reformen nichts ändern.


Zudem könnte auch das beste demokratische Prozedere nichts daran ändern, dass letztlich Einsicht und Kontrolle über Planungen, Finanzen und Verträge dem Kapital und dem staatlichen und politischen Establishment vorbehalten blieben. Im Fall des Falles schaffen sie einfach juristische (vertragliche) Fakten, an denen keine Schlichtung im Nachhinein noch etwas ändern könnte.


Geisslers Verweis auf die etwa in der Schweiz angewandten Volksabstimmungen übersieht, dass erstens nicht jedes Volksbegehren per se für das „Richtige“ plädiert - schon deshalb nicht, weil die Kapitalseite natürlich immer die „besten“ Gutachten, die Medien und das Geld für die Bezahlung eines Projektes zur Verfügung hat. Zweitens ist natürlich das votierende „Volk“ auch in Klassen mit verschiedenen Interessen gespalten. Was für Kapital und Mittelstand gut sein mag, muss es für die Lohnabhängigen noch lange nicht sein.

Das Hauptproblem bei Projekten wie S 21 ist aber, dass dabei eben nicht einfach über Sachfragen entschieden wird - also die Gebrauchswertseite -, sondern auch und v.a. über Kapitalfragen - quasi die Wertseite.


Im Rahmen des Kapitalismus mit seiner letztlich chaotischen, von der Konkurrenz geprägten Wirtschaftsweise ist es für Lohnabhängige wie auch für das Kapital selbst nur bedingt möglich, zu durchschauen oder gar vorauszusehen, welche Entscheidung richtig oder falsch ist.


Natürlich ist das Alternativprojekt K 21 besser als S 21, doch selbst wenn es verwirklicht würde, könnten zwar etliche Milliarden gespart werden, doch ob diese dann in soziale oder ökologische Projekte fließen, ist damit noch lange nicht gesagt. Um das abzusichern, müsste die Kontrolle über das Finanzsystem, über Investitionen etc. dem Zugriff des Kapitals und des bürgerlichen Staates entzogen und unter Arbeiterkontrolle gestellt werden. Das aber würde das Funktionieren des Kapitalismus als System in Frage stellen und die Machtfrage in der Gesellschaft aufwerfen. Das allerdings sollte man nicht von Herrn Geissler erwarten.


Geisslers Vorschläge bieten also nur scheinbar einen Ausweg aus einem Dilemma wie S 21. Gleichwohl haben sie aber praktisch durchaus Sinn - nämlich aufkommenden Protest zu beruhigen, die Bewegung zu spalten und zu demobilisieren und Illusionen in die Reformierbarkeit des Kapitalismus zu fördern.


Alternative


Die Alternative dazu besteht darin, derartige „Schlichtungen“ mit der Gegenseite abzulehnen und den Kampf mit effektiven Methoden - Besetzungen, Blockaden, Streiks - weiterzuführen, bis ein kompletter Stopp von Projekten wie S 21 erreicht ist. Dann kann und muss allerdings eine breite Debatte - v.a. in der Bewegung selbst - über die besten Varianten der Realisierung von Alternativprojekten geführt werden. Anstatt einer Schlichtung in Form eines Kniefalls der Stuttgarter Geissleins vor den Wölfen des Kapitals und der Regierung, kann dann wirklich die Weisheit, die Erfahrung, die Kreativität der Massen zur Geltung kommen - anstatt der fixen Ideen von Geissler.


Doch wie S 21 auch zeigt, bleiben selbst Projekte wie K 21 nur beschränkte Insellösungen im Meer der Privatwirtschaft. Eine grundsätzliche Lösung kann es nur geben, wenn die Kontrolle von Kapital und Staat über Finanzen, Planungen usw. gebrochen und durch die Kontrolle der Bewegung, der Beschäftigten, der Arbeiterklasse ersetzt wird. Diese Kontrolle wiederum hängt aber in der Luft, wenn sie nicht mit einer realen Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel verbunden ist. Das bedeutet z.B., dass die an S 21 beteiligten Firmen (private und Landesbanken, die Bahn, Bauunternehmen usw.) enteignet und unter Arbeiterkontrolle gestellt werden. Letztlich stellt sich damit auch die Frage der Regulierung der Wirtschaft insgesamt - also einer demokratischen Planwirtschaft.


Bei S 21 zeigt sich auch, dass die Konkurrenz der Standorte - in dem Fall von Städten - dazu führt, dass jede Stadt versucht, zum Verkehrsdrehkreuz zu werden, um Kaufkraft und Investitionen anzuziehen - die dann natürlich anderswo wegfallen. So sind der Ausbau und die bessere Anbindung des Flughafens Stuttgart wichtige Argumente für S 21. Dafür, dass Stuttgart einige hundert Flüge jährlich den Konkurrenten Frankfurt und München abluchst, werden Milliarden Euro mobilisiert. Einen realen Bedarf für ein Luftkreuz Stuttgart gibt es deshalb natürlich noch lange nicht.


Einen realen Bedarf gibt es hingegen z.B. an genügend Kita-Plätzen in Stuttgart. Das kostet nicht Milliarden und wirft auch keinen Gewinn ab - gerade das aber ist der Grund, weshalb Kita-Plätze für Kapital und bürgerliche Politik bei Zukunfts-Projekten keine Rolle spielen.


Bei S 21 geht es nicht nur um ein paar Gleise mehr oder weniger, oben oder unten; es geht im Endeffekt um eine gesellschaftliche Weichenstellung: Kapitalismus oder Sozialismus?

 



Stuttgart 21: Kein Fußbreit der S 21-Lobby!

Unser Widerstand muss noch entschlossener werden!

Anmerkung der Redaktion: Unsere Organisation RKOB wurde von Mitgliedern, die vormals in der Liga für die Fünfte Internationale (LFI) organisiert waren gegründet. Den folgenden Text  zählt RKOB somit zu ihrem politischen Erbe.

 

 

http://fifthinternational.org/


Flugblatt von Arbeitermacht und REVOLUTION vom 1. Oktober 2010, Infomail 509, 1. Oktober 2010


Die brutale Räumung von Teilen des Schlossparks zeigt, wozu unsere Gegner entschlossen sind. Gewaltfreien und friedlichen Protest lassen sie von Polizei-Hundertschaften wegknüppeln. Kinder, Jugendliche, RentnerInnen werden mit Pfefferspray und Wasserwerfern auseinander getrieben, um ein aberwitziges Profitprojekt der Bahn AG und der S21-Mafia in Rathaus und Landtag durchzupeitschen.


Hunderte wurden dabei gestern verletzt. Baden-Württembergs Innenminister hat trotzdem die Unverfrorenheit, den AktivistInnen die Schuld am „verhältnismäßigen Einsatz“ in die Schuhe zu schieben. Wir können davon ausgehen, dass in den Hinterzimmern der Polizeidirektionen Überstunden gemacht werden, um das nötige Beweismaterial zu „sichern“, also zusammenzuschneiden. Wes Geistes Kind die S 21-Lobby ist, beweist wieder einmal OB Schuster, der regelmäßig ein paar tausend hartgesottene rechte CDUler für das Bahnprojekt aufmarschieren lässt und dann von der „schweigenden Mehrheit“ faselt, die dort angeblich zu sehen wäre.


Der OB ist offenkundig nicht nur ein Vertreter der Profitinteressen von Bahn AG, Grundstückspekulanten und Baufirmen - er kann offenkundig auch nicht zählen. Zynisch verweist die S21-Lobby darauf, dass es „demokratische“ Mehrheiten für ihr Wahnsinns-Projekt gebe. Das mag ja für diverse Abgeordnetenhäuser gelten: für die Bevölkerung gilt es nicht! Deshalb wollen diese demokratischen Helden auch jeden Volksentscheid oder auch nur eine Volksbefragung verhindern.


Lehren aus dem Polizeieinsatz


Klar ist aber auch: Die BefürworterInnen von S21 sind entschlossen, „ihr“ Projekt gegen den Widerstand der Mehrheit der Bevölkerung, gegen den wöchentlichen Protest von zehntausenden DemonstrantInnen mit Gewalt durchzupeitschen.

Welche Schlussfolgerung ziehen wir daraus? Wie können wir unseren Kampf zum Erfolg führen? Wie können wir uns wehren, wenn der Gegner mit Gewalt den Konflikt eskaliert?


Die größte Stärke der Bewegung ist ihre Massenunterstützung in der Bevölkerung. Wir müssen die Kraft der Bewegung besser organisieren und strukturieren. Dazu schlagen wir regelmäßige offene BesetzerInnen- und AktivistInnenplena vor. So können noch mehr Menschen informiert werden, so können die Ausrichtung und Aktionen demokratisch und offen diskutiert und beschlossen werden.


Wir müssen aber auch die Bewegung vor Ort zusammenfassen, aus DemonstrantInnen und SympathisantInnen organisierte AktivistInnen machen! Dazu ist die Organisierung von Unterstützergruppen in den Stadtteilen, in Betrieben, an Schulen und Unis notwendig! Deren Aufgabe wäre es v.a., gegen weitere Räumaktivitäten Unterstützung zu organisieren. Der SchülerInnenstreik war eine hervorragendes Mittel, um rasch viele UnterstützerInnen im Park zu sammeln, und so das Tempo der Räumung massiv zu verzögern.

Wenn das an Schulen geht, warum nicht auch an Unis und Betreiben?! Gerade dort sollten GewerkschafterInnen, Vertrauensleute, Betriebsräte umgehend Belegschafts- und Abteilungsversammlungen einberufen, um über die Polizeigewalt aufzuklären, UnterstützerInnen zu gewinnen und politische Solidaritätsstreiks zu organisieren.


Massenaktionen ausbauen!


Solche UnterstützerInnengruppen und die Massendemos sind weiter ein Ausgangspunkt für Aktionen wie Blockaden in der Stadt. V.a. geht es darum, die Besetzung über den Park durch eine Massenbesetzung des Bahnhofs auszuweiten, um so den Kampf weiter voranzutreiben, eine Anlaufstelle für UnterstützerInnen auch im Winter zu haben und ein Aktionszentrum des Widerstands aufzubauen, wo Workshops stattfinden, AktivistInnen ihre Treffen abhalten und Massenversammlungen stattfinden.


Für ein demokratische Delegiertenstruktur der Bewegung!


Der Kampf gegen die Räumung hat gezeigt, dass trotz Polizeigewalt Tausende Widerstand leisten wollen. Wo aber blieb die selbsternannte Führung der Bewegung? Hat sie die Aktionen organisiert? Hat sie ein Flugblatt oder Aufrufe an die Bevölkerung herausgebracht? Nein, sie war als Führung nicht präsent! Wohl aber hat sie eine Woche davor ein „Spitzengespräch“ mit der S21-Lobby „für die Bewegung“ geführt, zu dem sie nicht legitimiert war. Das „Gespräch“, war von Beginn an eine Farce, da Schuster und Grube erklärt hatten, dass ein Baustopp für sie nicht in Frage komme. Dennoch ging das Verhandlungsteam um die GRÜNEN darauf ein und bereitete die Bewegung nicht auf die absehbare Räumung vor.


All das zeigt, dass wir eine demokratisch legitimierte Koordinierung und Führung der Bewegung brauchen, die von Delegierten der Aktions- und UnterstützerInnengruppen gewählt und jederzeit abwählbar ist - eine basisdemokratisch bestimmte Führung, die zur Umsetzung der Entscheidungen der Plena verpflichtet ist.


Für die Verbindung mit Anti-Krisenbewegung und sozialen Kämpfen!


S21 hängt eng mit der kapitalistischen Umstrukturierung der Bahn, dem Börsengang und ihrer Profitorientierung zusammen. Die Interessen der Beschäftigten und der Fahrgäste zählen nicht.


So ist es auch bei den Sparpaketen und der Verelendung der Hartz-IV-BezieherInnen. Zahlen sollen jene, die ohnedies immer weniger in der Tasche haben. Daher gehören die Kämpfe der Anti-Krisenbündnisse und der Protest gegen S21 zusammen! Diese Verbindung stärkt den Kampf gegen Sozialabbau, Billiglöhne und Armut wie auch die Bewegung gegen das Milliardengrab S21.


Infos und Kontakt: www.arbeitermacht.de; stuttgart@arbeitermacht.de

www.onesolutionrevolution.de, stuttgart@onesolutionrevolution.de