Zur Herangehensweise an die demokratischen Protestbewegungen

 

Von Michael Pröbsting

 

Wir veröffentlichen im folgenden einen Auszug aus dem Anfang August erschienen Buch der RKOB „Die halbe Revolution – Lehren und Perspektiven des arabischen Aufstandes“. Das Buch kann über unsere Kontaktadresse bezogen werden.

 

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Wir wollen hier einige allgemeine Anmerkungen zu den Besonderheiten der neuen Protestbewegungen, die zentrale Hauptplätze wie z.B. in Kairo aber auch in Madrid, Barcelona oder Athen besetzten, darlegen. Sie zeichnen sich durch eine Radikalität und eine klassenunspezifische Zusammensetzung und Organisationsform aus. In einem gewissen Sinnen erinnern sie an die Assamblea Populare in Argentinien 2001/02.

Die massenhafte Verbreitung dieser spontanen Protestbewegung zeigt, wie tief und weit verbreitet das Mißtrauen gegenüber den offiziellen bürgerlichen Institutionen und Parteien ist.

In solchen Situationen gibt es zwei wesentliche Gefahren für die revolutionäre Intervention. Einerseits ein sektiererisches Abseits-stehen mit dem Argument, es handle sich dabei um kleinbürgerliche und nicht „rein-proletarische“ Bewegungen. Die andere Gefahr besteht in einem opportunistischen Anpassen an die klassenübergreifende Politik und Organisationsformen.

Man muß anerkennen, daß diese Bewegungen einerseits unter einer kleinbürgerlichen Hegemonie stehen (StudentInnen bzw. Intellektuellen). Aber andererseits nehmen auch viele ArbeiterInnen an diesen Bewegungen teil und noch mehr schauen voller Hoffnung und Erwartung auf sie.

Man erinnere sich in diesem Zusammenhang auch an die Massenproteste in China am Pekinger Tian’anmen-Platz im Mai/Juni 1989. Auch damals spielten StudentInnen eine führende Rolle, doch nahmen auch zahlreiche ArbeiterInnen teil (sie besetzten ein eigenes Viertel am Platz) und waren in den Kämpfen gegen die Panzer am 4. Juni der entschlossenste Teil der Bewegung. (1)

In einem gewissen Maße erinnert diese Situation an den Februar/März 1917. Auch damals wurde die Revolution von der ArbeiterInnenklasse getragen, doch an der Spitze der Bewegung standen kleinbürgerliche und bürgerliche Kräfte, die dann auch zuerst die Macht übernahmen. Natürlich hat diese Analogie Grenzen: damals unterstützten die kleinbürgerlichen Kräfte eine imperialistische, kriegsführende Regierung – heute kämpft die kleinbürgerliche geführte Volksbewegung gegen die imperialistischen oder pro-imperialistischen Regierungen. Aber die Gemeinsamkeit einer mehrere sozialen Klassen und Schichten umfassenden Bewegung unter kleinbürgerlicher Führung bleibt.

Lenin schrieb damals über den kleinbürgerlichen Taumel des revolutionären Oboronzentum (der Vaterlandsverteidigung Rußlands im I. Weltkrieg in der Zeit der bürgerlichen Provisorischen Regiering nach dem Sturz des Zaren), der die Massen erfaßt hat. Er empfahl damals den Bolschewiki: Aus der oben geschilderten Eigenart der tatsächlichen Lage ergibt sich, die für den Marxisten – der mit den objektiven Tatsachen, mit den Massen und den Klassen, nicht aber mit Einzelpersonen u. dgl. m. rechnen muß – verbindliche Eigenart der Taktik im gegebenen Zeitpunkt. Diese Eigenart erfordert vor allem, daß ‘der süßlichen Limonade revolutionär-demokratischer Phrasen Essig und Galle beigemischt wird’ ... Sie erfordert Kritik, Aufklärung über die Fehler der kleinbürgerlichen Parteien der Sozialrevolutionäre und Sozialdemokraten, Schulung und Vereinigung der Elemente der bewußten proletarischen, der kommunistischen Partei, Befreiung des Proletariats von dem „allgemeinen“ kleinbürgerlichen Taumel. Es scheint, als sei das ‘bloß’ propagandistische Arbeit. In Wirklichkeit ist es im höchsten Grade praktische revolutionäre Arbeit, denn man kann eine Revolution nicht vorwärtstreiben, die zum Stillstand gekommen ist, die in Redensarten versandet ist, die ‘auf der Stelle tritt’ nicht etwa äußerer Erfordernisse wegen, nicht weil die Bourgeoisie Gewalt gegen sie anwendet (…), sondern weil die Massen in blinder Vertrauensseligkeit gefangen sind." (2)

Die Aufgabe von RevolutionärInnen besteht darin, innerhalb dieser Bewegungen für eine proletarische, revolutionäre Linie zu kämpfen und schließlich für die unabhängige Organisierung des Proletariats und der unterdrückten Schichten, die andere Schichten wie die lohnabhängigen Mittelschichten und die Bauern mit sich zu ziehen. Das bedeutet:

* Für ein revolutionäres Programm einzutreten, also ein Programm, daß die Machtfrage aufwirft und beantwortet (also inkl. bewaffneter Aufstand und Diktatur des Proletariats)

* Offenes Aussprechen der revolutionären Taktiken im Rahmen dieses Programms (z.B. Generalstreikslosung, Selbstverteidigungsmilizen)

* Für das klare Eintreten von Organisationsformen – v.a. Räte – die die revolutionär-demokratische, proletarische Ausrichtung der Bewegung ermöglichen

* Kampf für die Ausrichtung der Bewegung auf die ArbeiterInnenklasse und die Unterdrückten

* Kritik und Aufklärung über den wahren Charakter der gegenwärtigen kleinbürgerlichen Führungen dieser Protestbewegungen.

* In diesem Sinne aufklärend zu wirken, Propaganda zu betreiben und Anhänger für den revolutionären Kommunismus zu gewinnen.

Auf diese Weise kann es den Bolschewiki-KommunistInnen gelingen, eine revolutionäre Partei aufzubauen, die an den Kämpfen der Unterdrückten teilnimmt ohne in ihr politisch aufzugehen.

 

Anmerkungen:

 

(1) Siehe dazu u.a. Michael Fathers and Andrew Higgins: Tiananmen. The rape of Peking, London 1989. Ein besonders beeindruckendes Zeugnis hat Steve Jolly: Eyewitness in China – the events in Tiananmen Square May-June 1989, Parramatta 1989, hinterlassen. Denn der damals im CWI aktive Genosse berücksichtigt im Unterschied zu meistens nur auf die StudentInnen fixierten Berichterstattern den enormen Anteil der ArbeiterInnen an den Kämpfen. Unsere politische Einschätzung der Ereignisse findet sich in der MRCI-Resolution „China: revolution and repression“ (in: Trotskyist International, Nr. 3, Sommer 1989). Die MRCI war die Vorläuferin der LFI.

(2) W. I. Lenin: Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution (1917), LW 24, S. 47 (Hervorhebung im Original)