Zur Frage des nationalen Charakters der Roma

In den ersten drei Kapiteln unserer Arbeit gaben wir einen Überblick über die historische Entstehung der Roma-Unterdrückung, ihre Entwicklung in der Periode der stalinistischen Herrschaft in Osteuropa und unter kapitalistischen Bedingungen in den letzten 10 Jahren.

 

In diesem Kapitel wenden wir uns der Frage zu, ob die Roma eine Nation darstellen, einen „sozial rückständigen Teil“ der jeweiligen Mehrheitsnation - wie es die StalinistInnen behaupteten oder ob eine andere Definition zutreffender ist.

 

Verschiedene bürgerliche Roma-Organisationen – insbesondere die Internationale Roma Union (IRU) – fordern die Anerkennung der Roma als eine eigene Nation, die als solche über eigene RepräsentantInnen innerhalb der EU verfügen soll.

 

Auf der anderen Seite haben die StalinistInnen – so z.B. der slowakische Stalinist Jaroslav Suzs in seinem 1961 erschienen Buch über „Die Zigeunerfrage“ – eine ethnische Identität der Roma geleugnet und sie als „sozial rückständigen Teil der slowakischen Nation“ bezeichnet.

 

Zur Klärung dieser Frage ist es notwendig, sich einen Überblick über die heutige Lage der Roma zu verschaffen. Heute gibt es weltweit ca. 10 Millionen Roma, 80% davon leben in Europa und ca. 5.85 Millionen oder knapp 60% aller Roma leben in Osteuropa (inklusive der ehemaligen Sowjetunion). In einigen osteuropäischen Staaten stellen sie eine bedeutende Minderheit dar. Auch wenn die Angaben z.T. umstritten und widersprüchlich sind – aufgrund der rassistischen Unterdrückung trauen sich viele Roma nicht, ihre ethnische Identität bei den Volkszählungen anzugeben –, kann man doch in etwa von folgendem Anteil der Roma an der jeweiligen Gesamtbevölkerung ausgehen: (29)

 

Mazedonien:                                                                         11%

Slowakei                                                                                10%

Rumänien                                                                              9.5%

Bulgarien                                                                               9%

Jugoslawien (Serbien und Montenegro)                               7%

Ungarn                                                                                   6%

Tschechische Republik                                                          2-3%

 

Doch die systematische Diskriminierung der Roma über Jahrhunderte hinweg – mit dem Völkermord unter dem Nazi-Regime als bestialischen Höhepunkt – hat ihnen sowohl die Integration in die bestehenden Gesellschaften und Nationen in den jeweiligen Ländern versagt wie auch einen eigenständigen Nationswerdungsprozess. Ihre Unterdrückung, die sie in den vergangenen Jahrhunderten in gesellschaftliche Nischen abdrängte und zu einer „Volksklasse“ machte, verhinderte, daß sich bei den Roma – ähnlich wie bei modernen Nationen – ein in die für den Kapitalismus typischen Klassen aufgespaltenes Volk herausbildete.

 

Die – oft erst unter dem Stalinismus einsetzende - Integration in den modernen Produktionsprozess erfolgte erst spät und ging zumeist mit einer Leugnung der kulturellen Eigenart der Roma einher. Die ansatzweise Anerkennung der ethnischen und kulturellen Identität nach 1989 wird wiederum durch das neuerliche Abdrängen der Roma an den untersten Rand der Gesellschaft und aus dem Produktionsprozess hinaus als Folge der kapitalistischen Restauration konterkariert.

 

Ihre geographische Zersplittertheit und die jahrhundertelange gesellschaftliche Paria-Stellung hat auch verhindert, daß die Roma in einem Land die Bevölkerungsmehrheit darstellen. Sie hat ebenso verhindert, daß alle Roma heute Romanes als ihre Hauptsprache verwenden (So sprechen heute ca. 60% der Roma in Rumänien und ca. 20% der Roma in Ungarn Romanes als Hauptsprache. Angaben von Roma-AktivistInnen zufolge sprechen ca. 80% der Roma in der Slowakei Romanes, wenn auch nicht immer als Hauptsprache.) Und auch hier muß angemerkt werden, daß es verschiedene unterschiedliche Dialekte des Romanes gibt und die IRU große Anstrengungen unternommen hat, eine einheitliche Romanes-Schriftsprache zu entwickeln. Ebenso kann man nicht davon sprechen, daß alle oder auch nur die Mehrheit der Roma eine Art Nationalbewusstsein besitzen. Allgemein gesprochen zeichnen sich die Roma-Gemeinden durch eine starke Zersplitterung in verschiedene Untergruppen und Clans aus. (30)

 

Unsere Organisation – die Revolutionär-Kommunistische Organisation zur Befreiung (RKOB)setzt in ihrem Verständnis der modernen Nation bei den Arbeiten von Marx und Lenin an. Die LFI – aus der wir kommen und deren revolutionäre Tradition wir fortsetzen – hat das Nationsverständnis weiterentwickelt und ist zu folgender marxistischer Definition gekommen:

Eine Nation ist das Ergebnis der bürgerlichen Epoche, d.h. von Aufstieg und Niedergang des Kapitalismus. Sie ist eine Gemeinschaft von Klassen, dominiert durch eine privilegierte und/oder ausbeutende Klasse oder Kaste. Diese Gemeinschaft hat eine vereinheitlichende territoriale und wirtschaftliche Grundlage, eine gemeinsame Sprache (Sprachen) und Kultur sowie eine gemeinsame Geschichte (wirklich und/oder mythisch). Auf diesem Fundament hat sich ein gemeinsames Selbstbewusstsein oder ein Nationalcharakter herausgebildet mit der politischen Konsequenz, daß die Nation eine eigene Staatsform erstrebt oder schon errichtet hat.“ (31)

 

Aus den oben angeführten Gründen entwickelten sich die Roma daher nicht zu einer Nation oder Nationalität im marxistischen Sinne.

 

Es wäre jedoch ebenso falsch, ähnlich wie die StalinistInnen die Existenz der Roma als eine besondere Gruppe mit einer eigenständigen Identität und auch einzelnen nationalen Merkmalen zu leugnen. Das wohl wichtigste kollektive Merkmal ist ihre gemeinsame rassistische Unterdrückung. Diese schlägt sich in den bereits angeführten sozialen Benachteiligungen nieder und geht bis zu den verschiedenen reaktionären Bezeichnungen für die Roma – „Zigeuner“ ist hier noch eher die harmlose Form, oft werden auch Schimpfwörter wie „Raben“, „Schwarze“ o.ä. verwendet. Auch wenn es einzelne Fälle der Assimilation in die Mehrheitsbevölkerung gibt, so trifft doch auf die allermeisten Roma die Diskriminierung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu der ethnischen Gruppe der Roma zu.

 

Ebenso besitzen die Roma eine gemeinsame ethnische Herkunft (Einwanderung aus Indien), die sich aufgrund der jahrhundertelangen Unterdrückung und gesellschaftlichen Isolation auch kaum verändert hat (daher spielen die diversen rassistischen Schimpfworte auf ihre dunkle Hautfarbe an.). In dieser Hinsicht ähnelt die Stellung der Roma jener der Schwarzen in den USA.

 

Allerdings besitzen die Roma – zumindest Teile von ihnen – im Unterschied zu den Schwarzen in den USA eine eigene Sprache. Und auch wenn sie keine klare Mehrheitsbevölkerung in einem Land darstellen, so sind sie doch nicht völlig zersplittert, sondern der Grossteil von ihnen lebt – in Stadtteil-Ghettos und Dörfern/Siedlungen – in bestimmten Regionen. In Rumänien z.B. leben die meisten Roma im nordöstlichen Siebenbürgen; in der Slowakei leben 55% aller Roma im Osten des Landes – in manchen Kreisen machen sie 15-19% der Gesamtbevölkerung aus – und die meisten anderen leben im Süden. (32) Man kann sogar sagen, daß eine Minderheit der Roma sich als eine Nation sieht.

 

Worauf sind diese widersprüchlichen Phänomene in der nationalen Entwicklung der Roma zurückzuführen? Als MarxistInnen suchen wir die Grundlage in der Klassengesellschaft. Wir haben bereits die Verantwortung für die Lage der Roma in ihrer historischen Unterdrückung festgemacht. Aber untersuchen wir dieses Problem auf einer anderen Ebene: Die spezifische Unterdrückung der Roma zeichnet sich dadurch aus, daß der Grossteil von ihnen den untersten Schichten der ArbeiterInnenklasse (Tagelöhner, Arbeiter im „grauen Sektor“ mit völlig unsicheren Beschäftigungsverhältnissen) oder gar den Deklassierten (also langfristig aus dem Arbeitsprozess Ausgestoßene) angehört. Eine winzig kleine Minderheit von Clan-Patriarchen, Intellektuellen und wohlhabenden Bourgeois hebt sich von der breiten Masse in Ghettos lebender verarmter Roma ab. Auch dies ist ein Merkmal der Roma-Unterdrückung: die Konservierung von aus der vor-kapitalistischen Epoche stammenden patriachalen Sozialstrukturen. Die rassistische Unterdrückung führt also auch zu einer eigenartigen, verzerrten Klassenstruktur innerhalb der Roma-Minderheit.

 

Eine zusammenfassende Definition des nationalen Charakters der Roma sollte also in etwa folgendermaßen lauten: Die Roma sind eine ethnische, rassistisch unterdrückte Gruppe, die in ihrem Entwicklungsprozess zu einer Nation aus den historischen Gründen ihrer Unterdrückung steckengeblieben ist. Elemente ihrer Existenz weisen in Richtung Assimilation, andere Elemente in Richtung Nation.

 

Unter den Bedingungen der kapitalistischen Herrschaft ist eine tatsächliche Assimilation, eine Aufhebung der Unterdrückung der Roma unmöglich. Der Rassismus ist historisch auf das engste mit dem modernen Kapitalismus verbunden. Die kapitalistischen Staaten in Osteuropa (aber auch Westeuropa!) brauchen die Roma als Paria, als eine „schweigende Minderheit“, auf die die krassesten sozialen Probleme abgewälzt werden können (sie sind z.B. die ersten, die entlassen und bei denen Sozialleistungen eingespart werden.) Darüber hinaus braucht die bürgerliche Gesellschaft gerade in Zeiten der sozialen Krise und Instabilität Sündenböcke. Die Juden und Jüdinnen wurden in Europa bereits weitgehend ermordet oder vertrieben, heute werden dafür die „ZigeunerInnen“ und ImmigrantInnen benützt.

 

Eine freie, organische Entwicklung zu einer Nation ist den Roma im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaftsordnung jedoch ebenso versperrt. Hierfür müsste ihnen der rassistische Kapitalismus die ungehinderte Herausbildung und Diversifizierung in unterschiedliche Klassen, die Verbreitung ihrer Kultur, Sprache etc. ermöglichen – ein Widerspruch in sich aus eben genannten Gründen.

 

Als dialektische MaterialistInnen sehen wir, daß es durchaus verschiedene Wege des Nationswerdungsprozesses geben kann. Insbesondere anerkennen wir, daß der subjektive Faktor – also das Selbstverständnis der Roma – eine zentrale Rolle spielt. Wir können daher nicht ausschließen, daß die Mehrheit der Roma – vor dem Hintergrund einer scharfen rassistischen Unterdrückung, einer gleichzeitigen Herausbildung einer breiteren Mittelschicht und ArbeiterInnenklasse usw. – in einer zukünftigen Periode noch ein Nationalbewusstsein entwickelt und so zu einer Nation werden. Dies könnte zum Beispiel auch nur in einem oder mehreren Ländern stattfinden und nicht notwendigerweise bei allen Roma gleichzeitig.

 

Für uns MarxistInnen ist die Schaffung von Nationen kein Ziel an sich. Wir kämpfen für die größtmögliche Freiheit der sozialen und kulturellen Entwicklung eines Volkes. Wenn die Roma in ihrer Sprache unterrichtet werden wollen, dann kämpfen wir für dieses Recht. Wenn sie einen Fernsehsender in ihrer Sprache fordern, unterstützen wir auch das. Unser Ziel jedoch ist der gemeinsame, internationale Kampf der ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen und Jugendlichen gegen die kapitalistische Gesellschaft und den mit ihr verbundenen Rassismus. Der Kampf gegen die spezifische Unterdrückung der Roma ist ein unabdingbarer Bestandteil dieser sozialistischen Perspektive.

 


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